Warum sind die Skandinavier eigentlich so innovativ? Das hat viel mit der Regierung und ihrer Verwaltung zu tun. Statt überbordende Bürokratie lautet das Motto: die Gesellschaft aktiv gestalten. Vorbild dafür ist eine britische Bewegung, die sich mit einfachen Prinzipien für eine empathische, offene und glücklichere Verwaltung einsetzt. Ihre Mitbegründerin Kit Collingwood zieht bei einem Auftritt in Schweden Bilanz.
Von Christin Skiera, Göteborg
Mehr als 800 Angestellte aus Ministerien, Behörden und Ämtern sind aus ganz Schweden nach Göteborg gereist. Im gläsernen Konferenzzentrum findet der größte Kongress zur Verwaltungsmodernisierung in Schweden statt. Zwar verfügt das Land über einen starken Sozialstaat, der durch hohe Steuereinnahmen privates Vermögen umverteilt und so allen Bürgern umfangreiche Sozialleistungen ermöglicht.
Doch seit der Wirtschafts- und Finanzkrise in den 90er Jahren wird der Wohlfahrtsstaat schrittweise verschlankt und für private Unternehmen geöffnet. Gleichzeitig sieht sich der Staat mit hohen Ausgaben konfrontiert – zum Beispiel durch Arbeitslosigkeit, eine alternde Bevölkerung und die Zuwanderung. Diesen Herausforderungen will Schweden vor allem mit einer modernen und digitalen Verwaltung entgegentreten, die innovativer und kostengünstiger als bisher sein soll.
Wie sich das umsetzen lassen könnte, ist das Thema auf dem Göteborger Kongress mit dem Titel „Der öffentliche Raum“. Hier führen Aussteller Drohnen vor, die bald vielleicht die Post ersetzen, Politiker diskutieren, wie die Arbeit durch die Technologie Blockchain transparenter gestaltet werden kann und die innovativste Kommune des Jahres wird gekürt.
Obwohl mehr als 70 Prozent der Angestellten im öffentlichen Dienst weiblich sind, hält der britische Wissenschaftler Dave Snowden die Keynote. Doch wie eine moderne Regierung und Verwaltung den Wandel konkret gestalten soll, erklärt er seinem Publikum nicht. Die Ausführungen sind bildreich, bleiben aber theoretisch und abstrakt.
Empathie, Offenheit und Diversität sind gefragt
Nach ihm betritt Kit Collingwood die Bühne. Die zierliche junge Frau mit dem Kurzhaarschnitt in Jeans und Stiefeln, die Hände in den Hosentaschen, wirkt anfangs ein wenig eingeschüchtert von der großen Bühne. Doch dann spricht sie in klaren, direkten Worten zum Publikum. Schnell macht sie deutlich, was aus ihrer Sicht der Schlüssel zu einer besseren Verwaltung ist: Empathie, Offenheit und Diversität.
Sie arbeite wie die meisten hier im Saal für den Staat und sei sehr stolz darauf. Aber auch sie war lange frustriert über das ungenutzte Potenzial des Staates. Es wird diese etwas burschikos wirkende Britin sein, die die Anwesenden überzeugt, dass sie zu einem besseren Staat beitragen können und wollen. Das folgende „Gezwitscher“ unter dem Hashtag #offrum auf Twitter zeigt, dass es ihr Beitrag war, der die Anwesenden mehrheitlich inspiriert hat.
Kit Collingwood arbeitet seit fast zehn Jahren für die britische Regierung, unter anderem im Justizministerium und derzeit im Ministerium für Arbeit und Rente. Für dieses entwickelt sie das digitale Angebot, damit Bürger Sozialleistungen online beantragen können. In Göteborg beschreibt sie ihre Position mit unbürokratischen Worten: Ihr Job sei es, „das Leben der Menschen durch Technologie besser zu machen.“ Kits Selbstbild entspricht nicht dem einer klassischen Beamtin, die Anordnungen umsetzt. Die Britin sieht sich eher als gestaltende Vordenkerin der Gesellschaft.
Sie hält mehr von Anreizen als Abgaben oder Auflagen, wie sie auf ihrem Blog auf der digitalen Plattform „Medium“ berichtet: „Wenn wir möchten, dass die Steuern rechtzeitig gezahlt werden, können wir pünktlich eingereichte Steuererklärungen mit einer Ermäßigung belohnen. Wenn wir wollen, dass die Bürger abnehmen, können wir mehr Fahrradwege bauen oder zuckerhaltige Getränke höher besteuern.“
Die Praxis im Ministerium erlebe sie allerdings häufig anders, berichtet Collingwood. Sie beobachte, dass die Regierung schlechte Entscheidungen treffe, schlechte Politik mache und letztendlich den Bürgern schlechte Dienste erweise. Beispielsweise sei sie als Verantwortliche für die Digitalisierung verwundert gewesen, wie wenig ihre Kollegen von neuen digitalen Möglichkeiten verstanden. Noch überraschender fand sie, dass sie nicht bestrebt waren, sich mit Fachleuten, Anwendern oder Kollegen, die sich mit ähnlichen Fragen beschäftigten, auszutauschen, um ihre klaffenden Wissenslücken zu schließen.
In Göteborg illustriert Kit Collingwood diese Beobachtung mit einem Beispiel: Für weibliche und männliche Strafgefangene gelten in Großbritannien die gleichen Regeln. Die Frauen hätten aber häufig Kinder zu versorgen, weshalb ihr Rückfallrisiko deutlich unter dem der männlichen Insassen lag. Hätten die Verantwortlichen mit Betroffenen vor Ort gesprochen, hätten passgenauere Auflagen gefunden und so Kosten gespart werden können.
„OneTeamGov“: Verwaltung als Team für die Regierung
Im Juli 2017 ergriff Collingwood die Initiative. Mit gleichgesinnten Kollegen wollte sie nach Möglichkeiten suchen, um die verkrusteten Verwaltungsabläufe aufzubrechen und Wege zu finden, innerhalb der Ministerien und bürgernah zusammenzuarbeiten. Sie lud alle Interessierten unabhängig ihrer Position, ihres Fachgebietes und ihrer Ausbildung zu einem Treffen in einen Londoner Coworking-Space ein. Die Veranstaltung trug den Titel „OneTeamGov“, um zu unterstreichen, dass für die Regierung alle im gleichen Team spielen. Statt einer Agenda gab es zwei Fragen: Wie verbessern wir die Dienste der Regierung? Und wie verbessern wir die Arbeitsweise der Verwaltung?
Dass sie mit ihren Gedanken nicht alleine war, zeigten die 200 Teilnehmer, die ihrer Einladung folgten: „Wir waren von der positiven Reaktion überwältigt“, hält Kit später etwas berührt in ihrem Blog fest. Auf das erste, gutbesuchte Treffen folgten weitere und es entstand die „OneTeamGov“-Bewegung. Inzwischen hat diese zwischen Westminster und Schottland unzählige Aktivitäten initiiert. In fünf britischen Städten finden wöchentlich sogenannte „Meetups“ statt. Die regionalen Gruppen diskutieren ihre Erfahrungen und teilen interessante Weiterbildungen und Veranstaltungen bei Twitter unter dem Hashtag #OneTeamGov. Ein digitaler Arbeitsbereich bei dem Messaging-Dienst „Slack“, dem inzwischen über 1200 Menschen angehören, dient der internen Vernetzung. In ihrem Podcast lässt die Bewegung internationale Pioniere für Verwaltungsmodernisierung wie etwa Lena Trudeau zu Wort kommen, die in den USA als Vordenkerin für die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung gilt.
Radikale Reform durch kleine Schritte
Ein Jahr später zieht Kit Collingwood nun für das schwedische Publikum Bilanz: „OneTeamGov“ wolle die Regierung und Verwaltung radikal reformieren. Aber statt große Pläne zu schmieden, die selten umgesetzt würden, setze sie auf kleine Veränderungen, die jeder einzelne täglich erreichen könne. Zum Beispiel sei es wichtig, den Kollegen in der Kaffeepause nicht nur seine Erfolgsgeschichten zu berichten, sondern auch über gescheiterte Projekte offen zu sprechen. So gebe es die Möglichkeit, aus Fehlern zu lernen und darüber ins Gespräch kommen, was man in Zukunft besser machen könne.
Es entfalte sich ein neues Selbstbild der Regierung und ihrer Verwaltung. Mit Blick auf die Anforderungen, die das globalisierte und digitale Zeitalter an die Regierung stelle, sei es dafür höchste Zeit. Die Bewegung gab sich sieben Prinzipien. Sie seien „unglaublich simpel“, mit gesundem Menschenverstand auf der Hand liegend. Dass sie trotzdem keine selbstverständliche Praxis seien, erstaunte sie.
Die Bewegung möchte früh und oft mit Bürgern reden und sie einbinden. Dass es in der öffentlichen Verwaltung bisher kaum Anreize gab, bürgerorientiert zu denken und zu handeln, fand sie sehr merkwürdig – schließlich sei man Staatsdiener und somit Diener der Gesellschaft, erzählt Kit. Eine vernachlässigte Kernkompetenz für Verwaltungsangestellte sei daher Empathie, also die Bereitschaft und Befähigung, sich in andere einzufühlen. Diese Fähigkeit könne der Verwaltung helfen, gesellschaftliche Wünsche zu verstehen und somit bessere Entscheidungen zu treffen. „Wir müssen in ihren Schuhen laufen!“, bringt es die Vordenkerin auf den Punkt. Vielfalt und Inklusion sind schon lange ihre Herzensangelegenheit. Sie sei stolz, dass der öffentliche Sektor in Großbritannien dabei in internationalen Vergleichen gut abschneide, denn sie sei überzeugt, dass Vielfalt und Inklusion die Verwaltungen bereicherten. Zum einen sei der Staat für eine zunehmend heterogene Gesellschaft tätig. „Wir müssen sicherstellen, dass wir die Menschen, denen wir als Staatsapparat dienen, auch repräsentieren“, appelliert Kit in einem Artikel, in dem sie sich Gedanken macht, wie Verwaltung zu einem inklusiven Arbeitsplatz werden kann. Zum anderen stünde ein größerer Bewerberpool zur Verfügung, wenn die klassischen Laufbahnen geöffnet würden, beispielsweise für Nicht-Akademiker oder Künstler. Dies sei wichtig, denn es brauche Menschen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen und sozioökonomischen Milieus. Aber ein offenes Klima benötige nicht nur eine neue Personalpolitik, sondern auch offene Arbeitsweisen, die ermutigten, sich einzubringen und zu Wort zu melden. Bei den „Meetups“ von „OneTeamGov“ nehmen daher alle als Privatperson teil, sodass sie ihre persönliche Meinung frei kundtun können, ohne an die offizielle Position des Arbeitgebers gebunden zu sein. So habe jede Stimme unabhängig von ihrer Position das gleiche Recht, gehört zu werden. Bei den Vorstellungsrunden der Treffen werden keine beruflichen Positionen genannt, sondern stattdessen erläutert, was man heute zum Positiven wenden möchte. Gleiche Probleme weltweit – „OneTeamGov“ goes global Die in der britischen Verwaltung aufgedeckten Missstände seien keine britische Besonderheit. Verwaltungen auf der ganzen Welt – Schweden und Deutschland nicht ausgenommen – stünden vor ähnlichen Herausforderungen, so Kit. Dies belegen die konzentrierten, begeisterten Gesichter im Göteborger Messesaal. Und auch die der 700 internationalen Gäste, die im Juli 2018 nach London kamen, um sich auf dem ersten internationalen Treffen von „OneTeamGov“ auszutauschen, zu lernen und zu vernetzen. Besonders aufmerksam dürften die Teilnehmer aus der Schweiz, Kanada und Schweden gewesen sein, wo sich aktuell eigene „OneTeamGov“-Bewegungen gründen.