Firoza Suresh will die Welt-Stauhauptstadt Mumbai zum Fahrrad-Paradies machen. Die erste Bürgermeisterin für das umweltfreundliche Fortbewegungsmittel schreckt die Mammut-Aufgabe nicht ab. Eine der vielen Herausforderungen: Es gibt Millionen Autos, Busse, Motorroller und Rikschas, aber keinen befahrbaren Radweg.
Von Natalie Mayroth, Mumbai
Es ist kurz nach sieben Uhr am Sonntagmorgen. Mumbai, eine Stadt mit 20 Millionen Einwohner*innen, liegt noch im Halbschlaf. Nur die Raben krähen bereits. Und auf den fast leeren Straßen tummeln sich Radfahrer*innen. Sie genießen die freie Bahn. Kaum jemand hupt sie von der Seite an oder startet ein gefährliches Überholmanöver. Zu anderen Tageszeiten sind die Fahrbahnen voll mit ratternden Rikschas, Rollern, Autos und Kleinlastern.
Unter den Frühaufsteher*innen, die sich auf den Weg zum Strand machen, ist Firoza Suresh. Die 49-Jährige trägt eine grüne Sportjacke und einen Rucksack, auf den kleine Fahrräder gedruckt sind. Ihr langer schwarzer Zopf lugt unter ihrem Fahrradhelm hervor. Sie kommt auf ihrem gelben Fixie zum Treffpunkt im Mumbaier Vorort Juhu. Auf dem Weg winkt sie fröhlich vielen Gleichgesinnten zu, die sie erkannt haben. Suresh redet schnell, wenn es um ihr Lieblingsthema geht: Fahrradfahren.
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Angefangen hat alles, als ihr Onkel ihr vor vielen Jahren das erste Rad geschenkt hat. Als sie in die Pubertät kam, wollte ihre Mutter, dass sie sich anders verhalte. Um das Fahrradfahren nicht aufgeben zu müssen, tauschte sie ihre geliebten Jeans gegen traditionelle Kleidung: eine weite Hose und dazu ein locker sitzendes Hemdkleid. „Meine ältere Schwester und die Nachbarn warnten meine Mutter, dass ich sonst keinen Mann finden würde, wenn ich weiter Rad fahre”, erzählt Suresh.
Als sie in den 80er Jahren in einer konservativ-muslimischen Siedlung im Vorort Mulund aufwuchs, war es nicht von allen gerne gesehen, dass Frauen so mobil sind. Heute ist sie übrigens mit einem Hindu verheiratet und hat einen Sohn. Firoza Suresh radelte damals trotz der Vorbehalte ihrer Familie weiter und wurde als „Cyclewalli“ aus ihrem Viertel Mulund bekannt. Diese Wortschöpfung ist eine Mischung aus dem englischen cycle (Fahrrad) und walli – dem indischen Wort für eine weibliche Person, die eine enge Verbindung zu etwas hat.
Von der Cyclewalli zur Fahrradbürgermeisterin
Suresh, die einen Abschluss in Betriebswirtschaft hat, machte aus ihrem Hobby Ernst: Sie gründete 2016 die „Smart Commute Foundation“ (SCF), mit der sie sich für eine umweltfreundliche Radverkehrsinfrastruktur einsetzt. Wenig später kündigte sie ihren Marketing-Job, um sich ganz der Stiftung zu widmen. Seitdem bestreitet sie ihren Unterhalt mit Veranstaltungen und radsportbezogenen Programmen, ihre Aktionen werden von verschiedenen Sponsor*innen unterstützt.
2019, drei Jahre später, wurde sie offiziell zur ersten Fahrradbürgermeisterin der Westküstenstadt. Die Idee dazu stammt aus einer Initiative der Amsterdamer Nichtregierungsorganisation BYCS. „Der Titel war mir nicht so wichtig”, sagt sie. Zuvor hatte sie sich schon jahrelang für die Anliegen der Fahrradfahrer*innen eingesetzt, Flash Mobs organisiert, Kampagnen wie „Cycle2Work“, Fahr mit dem Rad in die Arbeit, gestartet oder Mumbais erste Pop-up-Fahrradspur initiiert. So ist sie längst zur Stimme für alle Radfahrer*innen geworden. Ihr Ehrenamt als Bürgermeisterin nimmt sie dennoch ernst.
Regelmäßig ruft sie Radtouren durch die Stadt ins Leben, zuletzt forderte sie dabei mehr Verkehrssicherheit. Sie klebt Reflektor-Streifen auf Rahmen oder repariert Räder für Kinder. Sureshs Anliegen ist es nicht nur, die Hobbyradler*innen aus der Mittelschicht anzusprechen, sondern auch die vielen Dienstleister*innen, die täglich Mittagessen und andere Waren mit dem Rad ausliefern. Sie machen wahrscheinlich die Hälfte aller Radfahrer*innen Mumbais aus. Wie viele Räder es in Mumbai gibt, ist schwer zu schätzen. Suresh geht von 50.000 aus, wovon die Hälfte beruflich genutzt wird. Im Alltag sind vor allem Männer zu sehen, die allerlei ausfahren oder verkaufen.
Sureshs Weg zur Fahrradhauptstadt
„Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin in der falschen Stadt geboren”, scherzt sie. Dieser Gedanke kam ihr 2017 bei ihrem Besuch der Velo-City-Konferenz in den Niederlanden. Sie sah, dass Radfahren auch problemlos sein kann. Vor Ort lernte sie BYCS und das Amt der Fahrradbürgermeister*innen kennen. Von den heute mehr als 30 Fahrradbürgermeister*innen in Indien war Firoza Suresh eine der ersten und sie hat sich ein Ziel gesetzt: Mumbai soll bis 2030 Indiens Fahrradhauptstadt werden – auch wenn die Mega-City vor allem für ihr Verkehrschaos bekannt ist.
„Stau-Welthauptstadt” kürte der Navigationsdienst TomTom Mumbai 2017 und 2018. Suresh ist dennoch zuversichtlich: „Wir können die Umweltverschmutzung und Staus reduzieren und Mumbai zu einem lebenswerteren Ort machen.“ Durch den Gegenwind und die Brise vom Meer war die allgegenwärtige Luftverschmutzung beim Fahren bisher kein Hindernis. Doch eine Flasche mit Trinkwasser dabei zu haben, sei aufgrund der hohen Temperaturen ein Muss.
Obwohl sie kein Budget hat, kommt Suresh voran. Sie ist Medienprofi. Das fällt nicht nur an den eigens für sie und einen Kreis aktiver Radler*innen designten Trikot-Jacken auf. Sie weiß, dass sie einen langen Atem, ein offenes Ohr und Bestimmtheit braucht, um mehr Mitbürger*innen aufs Rad zu bringen und die Stadt zum Handeln. Dafür wirbt sie auf Instagram oder auch direkt auf der Straße wie bei Terminen mit Mumbais Bürgermeisterin Kishori Pednekar, der sie im Februar den Bau von Fahrradständern an 600 Orten in Mumbai vorgeschlagen hat.
Die Blaupause sei bereits fertig, sagt Suresh. Sie versucht bei Versäumnissen Druck zu machen: Denn die Stadt hat genau einen Radweg, doch der ist von Rikscha-Taxis zugeparkt. Ein weiteres Projekt – ein 36 Kilometer langer Radweg entlang einer Wasserversorgungsleitung – liegt seit der Pandemie flach. Für vieles braucht es in Mumbai eine Speziallösung: So benötigt man beispielsweise Radwege mit Geländer, weil sie ansonsten blockiert werden würden.
Radfahren wird cool
Ein Team von Freiwilligen hat eine Initiative namens „Cycle Chala City Bacha“ („Fahre Rad und rette die Stadt“) gestartet. Seitdem hat jeder der 24 Stadtbezirke eine*n Fahrradbeauftragte*n. Eine davon ist Nikita Purohit. Die 26-jährige Dozentin betreut eine Gruppe mit 140 Mitgliedern, die sich mehrmals in der Woche morgens per WhatsApp zum Radfahren verabreden. Sie borgen Helme aus, holen neue Fahrradfahrer*innen von zu Hause ab und tauschen sich mit Gleichgesinnten aus.
Purohit ist von ihrer Fahrradbürgermeisterin überzeugt: „Firoza versucht, die verschiedenen Radfahrer*innen zusammenzubringen und mit den Kindern in den Slums machen wir Touren zu ihren Geburtstagen und an Feiertagen.“ Sie rechnet ihr hoch an, dass sie die Erste war, die sich für die Lieferfahrer eingesetzt hat, die auf ihre Drahtesel zum wirtschaftlichen Überleben angewiesen sind. Suresh begann vor ein paar Jahren mit ihnen in Gruppen den Arbeitsweg abzuradeln, um so auf sie aufmerksam zu machen und ihnen zu zeigen, dass sie Teil der Radfahrer*innen-Community sind. „Für viele in Mumbai sind sie unsichtbar“, erklärt Suresh.
„Als ich aufwuchs, waren das die Fahrradfahrer*innen, die ich kannte und es gab in der Nähe der Bahnhöfe immer viele Räder zu sehen”, erinnert sich Firoza Suresh. Das Rad war lediglich ein Fortbewegungsmittel. Auch sie schwang sich auf ihre schwarz-rote „Street Cat” statt mit dem Bus zu fahren. Motorräder waren teuer und auch andere Leute sparten lieber das Geld, als es für eine Rikscha-Fahrt auszugeben.
Doch damals war Mumbai längst nicht so überfüllt. In den vergangenen 40 Jahren hat sich die Bevölkerung mehr als verdoppelt. Vieles änderte sich, als Motorroller und -räder – auf denen die halbe bis ganze Familie mitfahren kann – erschwinglich wurden. Radfahren hingegen war gefährlich. Erst langsam etabliert es sich als Freizeitsport. „Während des Lockdowns gab es ein Drittel mehr Radfahrer*innen in der Stadt”, sagt Suresh. Eine wachsende Gruppe der städtischen Mittelschicht besitzt ein Exemplar. Die Freizeit-Radler*innen planen Touren. Erstaunlich: Das als Fortbewegungsmittel der Armen verpönte Rad wird zum allmählich zum Statussymbol.
„Die Verkehrssicherheit ist das Wichtigste, weil wir auch Kinder und Frauen ansprechen“, erklärt Suresh. „Es kommt darauf an, selbstbewusst auf dem Rad zu sein. Die Körpersprache ist entscheidend. Ich rate immer: Bleib in deiner Spur und der Verkehr wird an dir vorbeiziehen.“ In Mumbai war der Anteil der Radfahrer*innen an den Verkehrstoten von 2016 bis 2019 mit weniger als zehn Personen im Jahr sehr gering. Im gleichen Zeitraum starben jährlich über 200 Fußgänger*innen, gefolgt von Fahrer- und Beifahrer*innen motorisierter Zweiräder.
Mehr Freiheit für Frauen
Die Hälfte der Bevölkerung Mumbais lebt in dicht besiedelten Vierteln mit mangelhafter Infrastruktur. Vor allem für Frauen sei das Fahrrad eine Chance: „Es gibt ihnen die Freiheit, sich in der Stadt zu bewegen. Nicht nur, um Besorgungen für den Haushalt zu machen, sondern um fit zu bleiben oder zum Vergnügen.” Suresh hat ihre muslimischen Wurzeln nicht vergessen und spricht direkt Musliminnen an, da sie aus eigener Erfahrung weiß, wie viele Möglichkeiten ihr damals das Radfahren eröffnet hat: „Ich möchte Radfahrerinnen trainieren, ich möchte, dass sie Verantwortung für andere Frauen übernehmen.“
Denn immer noch haben viele Frauen – außer öffentlichen Verkehrsmitteln wie Bus und Bahn – kaum eine andere Fortbewegungsmöglichkeit. Doch im Gegensatz zu dem, was Sureshs Schwester damals befürchtete, sind Männer von Rad fahrenden Frauen beeindruckt. „Hier ist es auch kein Problem, als Frau nach Sonnenuntergang draußen zu sein. Die Stadt schläft nie”, sagt Firoza Suresh. Und sie will noch früher ansetzen. Sie sammelt weiter alte und neue Fahrräder für Kinder sowie Frauen aus einkommensschwachen Familien. Damit kommt sie dem Traum der radelnden Welthauptstadt Speiche um Speiche näher.
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