Lyon galt vom 17. bis zum 19. Jahrhundert als Hauptstadt der Seide. Früher war die Seidenweberei ein Männerberuf, Frauen erledigten die niederen Arbeiten. Heute halten in der einzig verbliebenen unabhängigen Seidenweberei Prelle Frauen das Handwerk und die Tradition aufrecht. Doch nur von der Vergangenheit wollen sie nicht leben.
Von Carolin Küter, Lyon
In dem ehemaligen Arbeiterviertel Croix-Rousse der südostfranzösischen Großstadt Lyon zeigt ein riesiges Gemälde auf einer Hausfassade Geschichte und Gegenwart: Links unterhalb einer Treppe, die als optische Täuschung auf die Wand gemalt wurde, ist ein Ladengeschäft zu erkennen. „Träume aus Seide“ steht auf der Fassade. Hinter den Fensterscheiben sieht man einen Mann, der an einem großen Webstuhl aus Holz arbeitet: ein „Canut“. So wurden die Seidenweber bezeichnet, die im 18. und 19. Jahrhundert in ihren Wohnungen an den Aufträgen arbeiteten, die sie von den Seidenhändlern bekamen.
Lyon hat sich bis heute den Ruf erhalten, damals die Welthauptstadt der Seidenweberei gewesen zu sein. Historisch überprüfbar ist das nicht. Das Handwerk begann sich im 17. Jahrhundert mit Ludwig XIV. in der Stadt zu etablieren. Der „Sonnenkönig“ brauchte Unmengen an feinen Stoffen für die Ausstattung seines Schlosses in Versailles. Die zahlreichen Nachahmer an den anderen europäischen Königshäusern ließen die Nachfrage weiter steigen. Mit der französischen Revolution kam auch das Bürgertum auf den Geschmack und der Markt für Seide wuchs weiter. Die Seidenweber und -händler brauchten mehr Platz in der Stadt und breiteten sich auf dem Hügel von Croix-Rousse aus. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Stadtteil schließlich das Zentrum der Seidenproduktion. Damit die Canut mit ihren bis zu vier Meter hohen Webstühlen viel Licht zum Arbeiten hatten, baute man die heute für das Viertel typischen Häuser mit hohen Decken und zahlreichen großen Fenstern. Die Innenhöfe sind von einem Netz aus Durchgängen und Treppen durchzogen. Das erleichterte damals den Transport der Seide und anderer Waren durch die steilen Straßen. Heute trifft man in Croix-Rousse vor allem junge Kreative, Touristen und Kneipengänger. Der Charme der alten Seidenweberwohnungen treibt die Mieten in die Höhe.
Heute nur noch zwei von ehemals 400 Seidenwebereien in Lyon
Nur ein paar Hundert Meter von der bemalten Häuserwand mit dem Canut-Denkmal entfernt lebt die Tradition. „Die Leute denken, es gibt uns nicht mehr, doch wir sind noch da“, sagt Gisèle Bardet. Die 55-Jährige ist einer der letzten Menschen in Europa, deren Beruf es ist, Seidenfabrikate in Handarbeit herzustellen. Zusammen mit zwei Kollegen arbeitet sie bei der Manufaktur Prelle, einer 25 Mitarbeiter starken Seidenweberei, die ihre Anfänge im 18. Jahrhundert hat. Von etwa 400 dieser Firmen in Lyon zu den Hochzeiten des Seidenhandels sind heute zwei geblieben. Prelle ist der letzte unabhängige Familienbetrieb. Die zweite noch verbliebene Lyoner Seidenweberei Tassinari & Chatel wurde vor knapp 20 Jahren von der Pariser Unternehmensgruppe Lelièvre übernommen.
Sie sei keine Canut, betont Bardet, denn die hätten als Selbstständige an ihren eigenen Webstühlen in ihren Wohnungen gearbeitet. Früher war die Seidenweberei ein Männerberuf. Frauen erledigten die niederen Arbeiten. Sogenannte „Ovalistinnen“ waren im 19. Jahrhundert dafür zuständig, die rohe Seide für die Weiterverarbeitung vorzubereiten. Ihre Arbeitsbedingungen waren weitaus schlechter als die der Männer. Der Aufstand der Canut von 1831, bei dem die Weber für höhere Löhne auf die Straße gingen, ist heute in Frankreich als eine der ersten Arbeiterbewegungen der Industrialisierung gut bekannt. Dass sich auch die Ovalistinnen in den 1830ern mit Streiks gegen die Ausbeutung wehrten, weiß kaum jemand.
Bardet macht heute die gleiche Arbeit wie ihre männlichen Vorgänger vor hundert Jahren. Wenn sie webt, erfüllen die Klackgeräusche der Mechanik den großen lichtdurchfluteten Raum voller riesiger Webstühle und großer Spindeln. Die Webstühle stammen etwa von 1830, erklärt Bardet, wurden seitdem aber mehrfach umgebaut. Das Gerät, an dem sie gerade arbeitet, besteht aus einem etwa drei Meter langem und zwei Meter hohem Holzgerüst. Darauf ist nochmal ein zwei Meter hohes Gestell angebracht, in das eine Papierbahn eingespannt ist. Diese Lochkarten geben das Muster vor, nach dem der Stoff gewebt wird. Wenn Bardet auf ein Fußpedal tritt, läuft die Lochkarte durch das Gestell und die 2400 Seidenfäden, die als rot glänzender Teppich vom anderen Ende des Webstuhls auf die Weberin zulaufen, trennen sich vor ihren Augen in zwei Bahnen. Dann zieht sie an einer Schnur, um das Schiffchen hindurchgleiten zu lassen.
So wird der Grundstoff gewebt. Ein Verfahren, das auch von einer Maschine erledigt werden könnte. Doch die Tücke ist das Motiv: große und kleine Blumen aus angerautem Velours, die sich von dem glatten, roten Grundstoff abheben. Es entsteht, wenn Bardet die Seide mit einem Hobel an bestimmten Stellen anschneidet. Natürlich darf der Faden dabei nicht reißen. „Dann müsste man ganz von vorne anfangen“, so die Weberin. Zum Glück sei ihr das noch nicht passiert.
„Entweder wir geben unser Wissen weiter, oder es geht verloren“
Sie arbeitet seit 30 Jahren als Weberin bei Prelle, „ein ganzes Leben”, wie sie sagt. Bardet ist in Croix-Rousse aufgewachsen. Als sie Kind war, habe sie noch öfter von Leuten aus dem Viertel gehört, dass diese als Seidenweber arbeiteten, erzählt sie. Sie selbst kam eher zufällig „durch eine Verkettung von Umständen” zu dem Handwerk. Eigentlich habe sie bei Prelle angefangen, um an den maschinellen Webstühlen zu arbeiten, an denen das Unternehmen ebenfalls Stoffe herstellt. Aber dann sei jemand gebraucht worden, der die Arbeit an den alten Stühlen macht und sie habe es einfach probiert und von ihren Kollegen gelernt. „Das war mein Schicksal“, sagt Gisèle Bardet. Heute sei sie stolz darauf, als Weberin die Lyoner Tradition zu verkörpern.
Die kräftige Frau mit den dunklen Locken und dem rauen Lachen redet nicht gerne über sich, aber wenn es um ihren Beruf geht, ist sie kaum zu bremsen. „Mir gefällt, dass ich mit meinen Händen schöne Dinge mache. Die Stoffe gehen an Kunden in Russland, Dänemark, Deutschland. Auch wenn ich selbst nicht dahin reise, sehe ich, wie sie in andere Länder kommen.“ Eine Ausbildung für das Handwerk gebe es nicht mehr. „Entweder wir geben unser Wissen weiter, oder es geht verloren“, so Bardet. Für ihre Arbeit brauche man vor allem Geduld und Konzentration. An einem Arbeitstag stelle sie etwa 45 Zentimeter Stoff her. Sie schätzt, dass sie etwa anderthalb Jahre benötigt, um den roten Blumenvelours fertig zu stellen. Der Verkaufspreis liegt bei 3930 Euro pro Meter.
Der Stoff ist für die ständige Kollektion der Seidenweberei gedacht, deren Kunden unter anderem Dekorateure oder Polsterer sind. Die Firma stattet aber auch Museen aus. Für diese Aufträge ist die Geschichte des Unternehmens besonders wichtig. Die Vorbesitzer des heutigen Unternehmens Prelle lassen sich bis 1770 zurückverfolgen. Und die Liste der berühmtesten Kunden aus knapp 250 Jahren liest sich wie das „Who is who“ des europäischen Hochadels des 18. und 19. Jahrhunderts: Marie Antoinette, Napoleon Bonaparte und auch russische Kaiser verwendeten Stoffe, die von den Vorgängern der Familie Prelle entworfen wurden.
Heute webt das Unternehmen die alten Stoffe neu: Derzeit wird ein Sitzbezug für einen Stuhl, der Frankreichs Königin Marie Antoinette gehörte und im Versailler Schloss ausgestellt ist, hergestellt. Auch das Zimmer von Kaiserin Josephine, Bonapartes Frau, im Schloss Fontainebleau bei Paris wurde mit Stoffen aus der Seidenweberei in Lyon stammen, restauriert. Und im Thronsaal Peters des Großen in St. Petersburg kann die Prelle-Neuanfertigung der Velourswandbilder und Thronpolsterung besichtigt werden.
Archivbücher sind das „Gedächtnis des Unternehmens“
„Wir haben viele berühmte Museen als Kunden“, sagt Anne-Sophie Grillat stolz. Sie ist Archivarin bei Prelle und unter anderem dafür zuständig, möglichst viele Informationen über die Bestellungen aus über 200 Jahren Firmengeschichte zu finden. Im besten Fall kann sie den Museen einen schriftlichen Beweis dafür liefern, dass die Stoffe, die wiederhergestellt werden sollen, ursprünglich von Prelle oder einem der Vorgängerunternehmen entworfen wurden. „Dann bekommt man eher den Auftrag, denn man muss die Vorlagen nicht noch einmal neu anfertigen”, so Grillat. Zudem weiß Prelle als Originalhersteller, wie groß die Bestellungen von damals waren, welcher Dekorateur den Auftrag einreichte, wie viel er bezahlte und welche Muster zu der Zeit besonders beliebt waren – Informationen, die für Museen sehr wertvoll sind. Grillat findet diese Angaben in den alten Auftragsbüchern und Musterverzeichnissen, „dem Gedächtnis des Unternehmens”, wie sie sagt.
Die Archivarin öffnet den schweren Deckel eines dieser kistengroßen Bücher und blättert in den mit Stoffmustern beklebten, vergilbten Seiten. Sie zeigt auf ein rotes Stück Satin, auf das ein goldenes Muster genäht ist, das an einen Adler erinnert: das Stoffmuster für die Originalstoffe, mit denen der Thronsaal in St. Petersburg geschmückt wurde. „Russischer Adler für den Saal Peters des Großen im Winterpalast, Stoff mit Goldstickerei“ steht in verschnörkelter Schrift über dem Muster. Daneben ist ein Datum vermerkt: 5. Januar 1856. Mit Bleistift und in deutlich modernerer Schrift wurde hinzugefügt: „Wurde sehr wahrscheinlich für die Inthronisierung Alexander II. hergestellt“. Der Kaiser herrschte rund 130 Jahre nach Peter dem Großen.
Doch nicht alle alten Vorlagen sind so leicht wiederzufinden wie die Muster für den Thronsaal. Gerade hat Grillat ein Foto von einem ziemlich mitgenommenen Stofffetzen auf ihrem Schreibtisch liegen. Der Kunde kennt weder das Alter noch den Namen des ursprünglichen Besitzers und will wissen, ob der Stoff von Prelle stammt. In solchen Fällen versucht Grillat den Stil des Motivs einer Epoche zuzuordnen und forscht im digitalisierten Archiv des Unternehmens. Jede Zeit habe kennzeichnende Merkmale, erklärt die Kunsthistorikerin: Große Palmenzweige waren zu Zeiten Ludwig XIV. beliebt. Zu Marie Antoinettes Lebzeiten wurden Eindrücke aus den französischen Kolonien in Nordamerika mit Darstellungen der indigenen Völker verarbeitet. Während Napoleon Bonaparte regierte und in Ägypten einmarschierte, waren zum Beispiel orientalische Motiven wie Sphinxfiguren modern. „Stoffe sind lebendig”, schwärmt Grillat. Sie würden sich viel schneller dem Zeitgeist anpassen als beispielsweise Gemälde.
„Wir interessieren uns für die Millionäre und Milliardäre”
Der Standort mit seiner Geschichte ist für Prelle ungeheuer wichtig, sagt Hélène Verzier. Sie ist Assistentin der Geschäftsführung, kümmert sich um den Vertrieb und überwacht die Produktion. „Ich habe den Überblick, vielleicht auch, weil ich die Frau des Chefs bin”, sagt sie augenzwinkernd. Ihr Mann Guillaume Verzier ist der Urenkel von Aimé Prelle, dem Zeichner – Textildesigner -, nach dem die Seidenweberei 1917 benannt wurde. Prelles Tochter, selbst Zeichnerin, heiratete 1926 Charles Verzier, der aus einer Familie renommierter Seidenfabrikanten stammte, erklärt Hélène Verzier. Sie hat die komplexe Unternehmensgeschichte zusammengetragen.
Prelle macht ihren Angaben zufolge 80 Prozent seines Umsatzes im Ausland, davon 50 Prozent mit US-amerikanischen Kunden. Den Amerikanern liegt etwas an unserem kulturellen Erbe, weil sie selbst weniger kulturelles Gepäck haben.” Sie ist überzeugt davon, dass die US-Kunden vor allem die Historie kaufen, die in den Stoffen steckt. „Wir geben ihnen ein Gefühl von Geschichte. Das ist der Grund, warum es das Unternehmen heute überhaupt noch gibt.“ Die Zielgruppe von Prelle sei eindeutig: „Wir interessieren uns für die Millionäre und Milliardäre.“ Der einzige wirkliche Konkurrent auf diesem Markt ist laut Verzier die zweite noch verbliebene Lyoner Seidenweberei Tassinari & Chatel.
Doch auch Verzier fürchtet um die Nische, die Prelle besetzt. „Wir müssen neue Wege gehen”, sagt sie. „Uns nervt diese Vorstellung, dass wir in einem lebendigen Museum arbeiten.” Das Geschäft stützt sich vor allem auf die Archive aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert wurden kaum neue Motive entworfen. Seit 2013 bringt Prelle erstmals wieder Stoffe mit neuen Designs auf den Markt. Aber es müsse noch mehr passieren, sagt Verzier.
Wie bedroht die alten Techniken sind, hat sich erst 2014 wieder gezeigt: In Croix-Rousse musste die letzte Werkstatt schließen, die die Seide nach einem besonderen Verfahren verarbeitete, mit dem Stoffe mit verschwommen Mustern und Motivlinien hergestellt werden. Prelle übernahm die Maschinen der Werkstatt und lernte seine Arbeiterinnen an. Jetzt lasse auch die Konkurrenz von Tassinari & Chatel diese Arbeit bei ihnen machen, so Verzier: „Wenn wir das nicht übernommen hätten, könnte man diese Produkte jetzt nicht mehr herstellen.“ Wie Prelle es geschafft habe, nicht wie viele andere Seidenwebereien unterzugehen? Vielleicht, weil sie ein Familienunternehmen geblieben seien, vielleicht, weil die Mitarbeiter flexibel und bereit seien, neue Aufgaben zu übernehmen, überlegt Verzier und fügt hinzu: „Die Leute sind stolz darauf, in dieser Branche zu arbeiten. Sie wissen, dass sie etwas ganz Besonderes machen.“
Unternehmenswebsite Prelle