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Der Schmetterlingseffekt
Kunsttherapie in Südafrika

11. Oktober 2023 | Von Eva Tempelmann
Angela Katschke ist ausgebildete Kunsttherapeutin und lebt seit 13 Jahren in Südafrika. Foto: privat

Angela Katschke ist Kunsttherapeutin und hat 2010 das sogenannte „Butterfly Art Project“ in Südafrika gegründet. Ihr Ziel: Kinder in ihrer Kreativität stärken und sie zu Gestalter*innen des eigenen Lebens machen. Heute berät und coacht sie Kolleg*innen und Organisationen in der psychosozialen und pädagogischen Arbeit. 

Von Eva Tempelmann, Ibbenbüren / Kapstadt

Die Stirn des Kindes ist gerunzelt, der Blick konzentriert. Es taucht den Pinsel ins Wasserglas, dann in den Tuschkasten und fährt schließlich in einem Bogen über das Papier. Hier entsteht ein Bild, Pinselstrich für Pinselstrich. Und auch: Eine Verwandlung. Mit Kunst wachsen und heilen: Das ist das Ziel des „Butterfly Art Projects“ (BAP), das die Kunsttherapeutin Angela Katschke vor 13 Jahren gegründet hat.

Die gemeinnützige Organisation bietet Kunsttherapie im Armutsviertel Vrygrond südöstlich von Kapstadt für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche an. Die Kurse sollen den Kindern die Freude am Erschaffen ermöglichen und sie damit stärken. „In Vrygrond erleben viele Kinder Gewalt und Vernachlässigung“, sagt Katschke. „Die Kunst kann ihnen helfen, ein Ventil zu finden und das Erlebte zu verarbeiten.“

Das regelmäßiges Malen reduziert den toxischen Stress der Kinder und fördert ihre mentale Gesundheit. I Foto: privat

Das Wendejahr 1994

Die 51-Jährige kommt 1993 nach dem Schulabschluss für ein Praktikum zum ersten Mal nach Südafrika. Das Land ist in Aufbruchstimmung. Nach 342 Jahren Weißer Vorherrschaft und Jahrzehnten des Apartheidregimes soll der institutionelle Rassismus gegen Schwarze endlich enden. Im Frühjahr 1994 finden in Südafrika die ersten allgemeinen und freien Wahlen statt. Von den 23 Millionen wahlberechtigten Südafrikaner*innen sind 18 Millionen Schwarze. Mehr als die Hälfte von ihnen lebt in Armutsvierteln. Die Wahl geht in die Geschichtsbücher ein: Nelson Mandela wird der erste Schwarze Präsident des Landes.

Angela Katschke beeindruckt diese Energie. Ein Jahr arbeitet sie in Kapstadt, reist durchs Land und beginnt dann ein Studium der Kunsttherapie in Ottersberg, einem winzigen Ort in Niedersachsen. Später kehrt sie in ihre Heimat Oberbayern zurück, leitet kunsttherapeutische Projekte in Kliniken für Kinder, Erwachsene und Senior*innen – und reist, wann immer sie genügend Geld beisammen hat, nach Südafrika. „Hier ging es meiner Seele gut“, sagt die 51-Jährige. „Alles Schwere aus Deutschland konnte ich hier abschütteln.“ Sobald sie Englisch gesprochen habe, sei sie ein anderer Mensch gewesen.

Manchmal träumt sie davon, einen Südafrikaner zu treffen, für den sie für immer im Land bleiben würde. Aber das geschieht nicht. Sie bleibt in Deutschland. Mit Ende 30 kommt der Wendepunkt. Angela Katschke steckt in einer tiefen Krise: Eine Beziehung zerbricht, ihre Mutter stirbt an Brustkrebs. „Ich habe den Faden nicht mehr gefunden“, erinnert sie sich an diese schwierige Zeit. Sie bekommt das Angebot, den Musiker Abdullah Ibrahim auf einer Reise nach Südafrika zu begleiten.

Aus dem Projekt wird zwar nichts, aber nun sitzt sie mit einem flexiblen Flugticket in Südafrika, während es in Deutschland nur „Herzschmerz“ gegeben habe. Also beschließt sie, im Land zu bleiben. Sie stellt einen Antrag auf eine Arbeitserlaubnis, die überraschenderweise direkt durchgeht und bucht ein One-Way-Ticket nach Kapstadt. Ab 1999 will sie Kunsttherapie als Studienfach etablieren.


 

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Harte Schule und erste Verwandlungen

Angela Katschkes Ziel: Kunst und Soziales verbinden. Ihr Plan: Ein Atelier haben, Kurse geben und von dem Geld, das übrigbleibt, die Menschen in den Townships unterstützen. Innerhalb weniger Monate versteht sie, dass es Geldströme gibt, Stiftungen und Fördertöpfe, die ihre Arbeit direkt in den Townships bezahlen würden. In den nächsten Jahren setzt sie sich mit Fundraising auseinander. „Eine harte Schule“, erinnert sie sich, aber die Mühe zahlt sich aus.

Nach zwei Jahren bekommt sie eine permanente Aufenthaltserlaubnis, 2010 gründet sie das „Butterfly Art Project“. Die Verwandlung hat begonnen. Sie lässt das Kunstzentrum in Vrygrond bauen, um dem Projekt ein Zuhause zu geben, und registriert es 2013 als gemeinnützige Organisation bei der südafrikanischen Regierung – als erstes kunsttherapeutisches Zentrum dieser Art auf dem afrikanischen Kontinent.  

Vrygrond, übersetzt „freier Grund“, ist eines der ältesten Townships am Westkap. Die Townships entstanden während des Apartheid-Regimes, als die Weiße Minderheit die Schwarze Bevölkerung aus dem Zentrum der Städte an ihre Ränder vertrieb. In den 1940er Jahren siedelten sich erste Familien auf dem sandigen Boden an, Tausende folgten. Heute leben hier rund 40.000 Menschen.

Die Zahl der Einwohner*innen aller Townships in Kapstadt wird auf zwei Millionen geschätzt. Die Arbeitslosigkeit liegt in Vrygrond bei 70 Prozent. Gewalt, Drogen und Bandenkriminalität bestimmen den Alltag. Häusliche Gewalt und Missbrauch sind weit verbreitet. Die Straßen sind voller Kinder und Jugendlicher – sie machen den größten Teil der Bevölkerung aus.

Das kunsttherapeutisches Zentrumin Vrygrond ist das erste dieser Art in Südafrika und wurde von Angela Katschke 2010 als gemeinnützige Organisation gegründet. I Foto: Kukuluru Media

In Bildern sprechen

Heute arbeiten im „Butterfly Art Project“ 250 Erwachsene, die mehr als 10.000 Kinder in ganz Südafrika betreuen. Die Organisation bietet Programme in Kunst und psychosozialer Unterstützung an. Im „Heart for Art Programm“ bekommen Kinder und Jugendliche sozialtherapeutische Impulse über die Kunst. Der Unterricht soll ein Ort sein, an dem sie sich sicher fühlen, ein sogenannter „safe space“.

In den Townships ist das selten gegeben, viele Kinder sind Waisen. Darüber hinaus bietet Katschkes Team Trainings- und Mentoringprogramme für Erwachsene an, die künstlerisch mit Kindern arbeiten, sowie Partner-Programme für Nichtregierungsorganisationen, Schulen und die Regierung. Das Kunstzentrum baut auf einer von Katschke entwickelten Methode auf, inspiriert von der Verwandlung einer kleinen, hungrigen Raupe zum Schmetterling.

Die Kurse gehen über acht Sitzungen in einem Quartal, die meisten Kinder bleiben ein Jahr, manche viel länger. Die Kurse laufen nach einem immer gleichen Rhythmus ab. „Die Kinder brauchen einen Halt, den ihr Alltag meist nicht hergibt“, erklärt die 51-Jährige. Nach der ersten Orientierung werden die Raupen neugieriger, die Kinder lernen künstlerische Methoden kennen und ein Thema, an dem sie ein Vierteljahr arbeiten: Gemeinschaft, Sicherheit oder Zukunftsvisionen.

Im BAP werden mehr als 10.000 Kinder aus 112 Gemeinden betreut. Die Inhalte der Kunstkurse drehen sich um Themen wie Gemeinschaft, Sicherheit, Gefühle und Zukunftsvisionen. I Foto: privat

Der Schmetterlingseffekt

Die Ateliers geben Raum für Malen, Zeichnen und Nähen, das Arbeiten mit Ton und Holz oder Theater. Am Ende stellen sie das Geschaffene vor und schließen den Kurs mit einem Abschlussfest – bis ein neuer Kurs, eine neue Verwandlung, beginnt. Um Menschen zu befähigen, Kinder und Jugendliche zu begleiten, werden sie zu Kursleiter*innen ausgebildet. Diese Weiterbildung sei unglaublich wirksam, so Katschke. Ähnlich einem Schneeball- oder eher Schmetterlingseffekt ziehe das Empowern der Kinder immer weitere Kreise.

Ihre Kolleg*innen erreichten oft mit wenigen Mitteln sehr schnelle Ergebnisse, weil sie nah dran seien an den Lebensrealitäten der Kinder und Jugendlichen und schnell Zugang zu ihnen fänden. Einige Mitarbeitende haben selbst traumatische Erfahrungen gemacht, alle kennen die Townships, wo Arbeits- und Perspektivlosigkeit das Leben der Menschen bestimmen. Einer dieser Kollegen ist Charles Jansen. Als Katschke den damals 24-Jährigen kennenlernte, war er drogenabhängig und gerade aus dem Gefängnis entlassen worden – zum 23. Mal, wegen Einbruch und Diebstahl.

Im BAP half er zunächst nur aus. Über die Kunst begann seine Verwandlung: Der junge Mann tauchte in die Themen ein und fand Wege, das bisher Erlebte zu verarbeiten. Heute übernimmt er die kunsttherapeutischen Kurse von Katschke und ist Vorsitzender des „Community Development Trust“. „Über die Kunst kann ich den Menschen in meinem Viertel etwas zurückgeben und Teil der Lösung sein statt Teil des Problems“, sagt Jansen. Vor Kurzem ist er zum ersten Mal Vater geworden.  

Angela Katschke im Selbstporträt: Das Bild entstand um ihren 50. Geburtstag. I Foto: privat

Noch immer die Fremde

2020 kommt Angela Katschke an einen weiteren Wendepunkt. Das Corona-Jahr hat sie mit ihrer Organisation gut bewältigt. Alle Mitarbeitenden behalten ihre Jobs, schreiben Kursprogramme und erfinden das „Butterfly Art Project“ neu, unter anderem mit Webinaren und besserer Vernetzung. Doch dann kommt die Erschöpfung und Katschke merkt: Sie kann so nicht weitermachen. Es fällt ihr zunehmend schwer, sich sozial zu verankern. „Ich war schon ewig hier und immer noch die Fremde“, sagt sie. „Mir wurde klar: Ich werde nie dazugehören.“

Die Kunsttherapeutin will zurück nach Deutschland und ihre Arbeit im BAP abschließen. Das heißt, sie übergibt ihre Organisation an eine neue Leitung, berät andere südafrikanische Organisationen in kunsttherapeutischer Arbeit und Organisationsentwicklung, coacht Gründerinnen, die ähnliche Wege gehen wie sie selbst. „Angela ist in ihrer Rolle als Beraterin ein Segen“, meint Coachee Victoria Schneider, Gründerin der Nichtregierungsorganisation „Timbuktu in the Valley“. „Sie teilt wertvolle Ideen und Kontakte und gibt dir als Mensch ein großes Gefühl von Verbundenheit.“

Angela Katschke ist stolz auf das, was sie geschaffen hat und nun weitergeben kann. „Beruflich war es für mich einfach, hier Karriere zu machen“, sagt sie. Das hänge sicherlich auch mit den Privilegien als Weiße Deutsche zusammen und dem Zugang zu Netzwerken und Kontakten, die sie für ihren Weg nutzen konnte. Und dann nimmt das Leben wieder eine Wendung: Anfang 2023 lernt sie einen besonderen Menschen kennen, „ein Kapstädter Urgestein“. Sie wird in die Familie integriert, das private Leben findet einen Boden. Und wieder einmal ist alles offen.

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Von Eva Tempelmann, Münster / Lima

Eva Tempelmann hat 2014 bis 2020 mit ihrer Familie in Peru gelebt und dort als freie Journalistin, Übersetzerin und Lektorin gearbeitet. In ihren Reportagen, Interviews und Analysen berichtet sie über Umweltkonflikte in Peru, Menschenrechte und soziale Bewegungen. Sie ist Co-Autorin des Reiseführers Peru & Westbolivien (Stefan Loose, 2018) und Peru & Bolivien (Marco Polo, 2020). Mehr unter: http://www.evatempelmann.com.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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