Bis zu 40 Prozent der Frauen machen bei der Geburt ihrer Kinder gewaltvolle, teils traumatische Erfahrungen im Kreißsaal. Lena Högemann wirft in ihrem Buch „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ einen feministischen Blick auf die Geburtshilfe und zeigt Wege auf für mehr Selbstbestimmung.
Von Eva Tempelmann, Berlin
Der gefrorene Boden knirscht unter den Füßen. Ein blauer Himmel spannt sich über Berlin. Die Luft ist kalt wie eine Messerklinge. „Der Dammschnitt ist einer der unnötigsten Eingriffe bei Geburten“, erzählt Lena Högemann, während sie an diesem eiskalten Januartag durch den Mauerpark läuft. Hier hat sie oft Interviews für das Buch geführt, das gerade erschienen ist. Es geht um Gewalt und Selbstbestimmung bei Geburten. Der Titel: „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen.“
Der Dammschnitt ist ein Schnitt zwischen Vagina und After. Er wird häufig gemacht, um den Geburtskanal zu vergrößern und die Geburt zu beschleunigen. „Manchmal werden die Frauen darüber nicht einmal informiert“, sagt Lena Högemann. „Man schneidet sie einfach in ihrem intimsten Bereich auf.“
Lena Högemann ist freie Journalistin und Moderatorin – und Mutter von zwei Töchtern. Sie hat zwei sehr unterschiedliche Geburten erlebt. Die erste bezeichnet sie im Nachhinein als traumatisch, die zweite als kraftvoll. Beide Entbindungen fanden in Kliniken statt. Der Unterschied: der Blick auf die Gebärende und die Vorbereitung. Die erste Geburt erlebte die Autorin als extrem übergriffig, die zweite konnte sie aktiv mitgestalten. Die gute Umgebung, das Vertrauen, die unterstützende Begleitung – das habe beim ersten Mal gefehlt.
Mehr als 98 Prozent aller Babys in Deutschland kommen in einer Klinik zur Welt. Geburtshäuser und Hausgeburten sind nach wie vor Ausnahmen. Die Kaiserschnittrate in Kliniken liegt bei rund 30 Prozent. Vor 30 Jahren lag sie bei der Hälfte. Dabei seien gesundheitlichen Risiken bei Kaiserschnitten für Mütter und Neugeborene nicht zu unterschätzen, warnt die Gesundheitsorganisation WHO. Ein Kind zur Welt zu bringen bedeutet: Verletzlichkeit. Angst. Große Erwartung. Vorfreude. Dennoch erlebt ein Drittel aller Frauen die Geburt ihres Kindes als gewaltvoll.
Recht auf Selbstbestimmung
„Die Geburtshilfe funktioniert nach bestimmten Routinen mit medizinischen Interventionen, die oft nicht hinterfragt werden“, meint Högemann. Häufige Eingriffe seien das Einleiten der Geburt, Wehentropf, Dammschnitte, Saugglocken, Greifzangen, mitunter auch der Kristeller-Handgriff, bei dem die Geburt durch starken Druck auf den Bauch beschleunigt werden soll und das Festbinden der Frauen bei Kaiserschnitten. Laut Högemann „eine wahre Interventionskaskade“. Gerechtfertigt werde dies oft mit dem Leben des Kindes. Die Mutter: Eine Hülle.
Högemanns Buch richtet sich an betroffene und werdende Eltern gleichermaßen. Die Autorin lässt Expert*innen zu Wort kommen, Hebammen, Ärzt*innen, Traumatherapeut*innen und die Betroffenen selbst, Frauen wie Männer. Sie empfiehlt, sich gut auf die Geburt vorzubereiten: Mit einem hebammengeleiteten Vorbereitungskurs, mit ehrlichen Informationen über Interventionen bei Entbindungen in Krankenhäusern und der Beschäftigung mit Fragen wie: Was gibt Kraft bei den starken Schmerzen? Welche Umgebung braucht die Gebärende, welche Hilfsmittel, wer soll sie begleiten? Und was tun, wenn die Geburt anders läuft als gedacht?
Was ist eine gute Geburt?
Monate nach der Geburt ihres ersten Kindes wendet sich Lena Högemann an eine Beratungsstelle, fordert ihre Akte in der Klinik an. Sie will verstehen, was passiert ist, notiert Fragen. Weitere Monate später sucht sie das direkte Gespräch mit dem zuständigen Arzt. Ihr Partner und ihre Traumatherapeutin begleiten sie. Die junge Mutter will wissen: War das normal? Der Arzt antwortet: Ja, das war eine gute Geburt. Die Eingriffe seien notwendig gewesen. Es sei nicht möglich, die Zustimmungen der Gebärenden während der Wehen einzuholen. Konkreter wolle er nicht sprechen, Details könnten den Vater des Kindes verstören.
Högemann ist schockiert über diese „Mischung aus Mensplaining und Medicine-Plaining“. Der männliche und medizinische Blick auf die Frau gelte mehr als die Bedürfnisse der Frau. Dennoch: „Die Konfrontation war befreiend.“ Uns so tauscht sie sich mit anderen Frauen aus und erfährt: Fast alle haben übergriffige Erfahrungen während der Entbindung gemacht – körperlich und psychisch. Sie sammelt Informationen über die Strukturen in Kreißsälen und das Gesundheitssystem in Deutschland und beschließt: Es braucht ein Buch über Selbstbestimmung in der klinischen Geburtshilfe.
„Die Selbstbestimmung von Frauen wird heute mehr denn je in den Blick genommen – aber nicht, wenn sie ein Kind zur Welt bringen“, so die Autorin. Frauen seien heute in der Politik und in Vorständen, leiteten Unternehmen und führten Diskurse über Gleichstellung und Care Arbeit. In der Geburtshilfe jedoch seien die patriarchalen Strukturen unverändert, das Sprechen darüber noch immer ein Tabu. Frauen sollten sich nicht beschweren, sondern dankbar sein, dass alles gut gelaufen sei.
„Ich dachte, wir wären weiter“
Als die Autorin für die Recherchen mit ihrer Mutter über die eigene Geburt vor 41 Jahren spricht, erfährt sie zum ersten Mal von den Verletzungen und Übergriffen, die ihre Mutter erlebt hat. „Warum hast du mir das nie erzählt?“ fragt die Tochter. „Ich dachte, wir wären weiter“, erwidert die Mutter. Högemann sieht das Recht auf eine selbstbestimmte Geburt in einer Reihe mit dem Recht auf Abtreibung und Verhütung. „Hier geht es um reproduktive Rechte, und diese gehören zu den grundsätzlichen Menschenrechten.“
Ihr Buch will die Ursachen für diesen Missstand aufzeigen. Diese sieht sie im Gesundheitssystem in Deutschland und bei den Menschen, die darin Verantwortung tragen: Politiker*innen, Chefärzt*innen, Ärzt*innen, Hebammen, Pflegekräfte. „Ich möchte Frauen zeigen: Ihr seid mit euren Erfahrungen nicht allein“, erklärt die Autorin. Sie möchte das Schweigen brechen und Anteilnahme ermöglichen – „eine Art #MeToo der Geburtshilfe“. Es gehe um Ehrlichkeit und das Erkennen von Machtstrukturen.
Langsam verstärkt sich der Ruf nach einer anderen Geburtskultur, in der die Rechte von Frauen und Kindern respektiert und geschützt werden. Die Initiative für eine gerechte Geburtshilfe in Deutschland zum Beispiel setzt sich für gewaltfreie Geburten ein. Medien informieren zum Thema, davon kündet unter anderem der „Roses Revolution Day“ am 25. November. An diesem weltweiten Aktionstag legen betroffene Frauen Rosen vor die Kreißsaaltür, hinter der ihnen Gewalt angetan wurde.
„Ich schreibe über das, was uns prägt: Geburt, Kinder, Geld“, so die Autorin. Aufgewachsen in einer Familie von Lehrer*innen hält sie Gleichstellung lange Zeit für selbstverständlich, ihre Eltern teilen sich die Familienarbeit auf. „Manche Frauen sagen: Ich bin durch die Geburt Feministin geworden.“ Sie selbst sei mit Feminismus vermutlich groß geworden.
Nach ihrem Studium volontiert sie bei einem Fernsehsender, arbeitet in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit eines großes Sozialverbandes und wird 2019 Pressesprecherin bei der Senatsverwaltung für Gesundheit. Hochschwanger mit ihrem zweiten Kind moderiert sie Pressekonferenzen, informiert über den ersten Corona-Fall in Berlin. Sie habe viel gelernt in dieser Zeit – vor allem, wie wichtig es ist, die Menschen gut zu informieren.
Kein Nischenthema
2020 macht sie sich selbständig und schreibt verstärkt über das Thema Geburten und Elternschaft. Doch wenn sie einer Redaktion ein Thema dazu vorschlägt, bekommt sie manchmal die Reaktion: ‚Geburten sind ein Nischenthema, das bringen wir nicht.‘ Högemann schüttelt mit dem Kopf. Jedes Jahr kommen in Deutschland zwischen 700.000 und 800.000 Babys zur Welt. Das sind Hunderttausende von Menschen, die in die Welt starten. Hunderttausende von Frauen, die diese Geburten traumatisierend oder selbstbestimmt erleben. Högemann ist überzeugt: „Das ist kein Nischenthema.“
Ihr Buch erscheint am 14. März im Ullstein Verlag in der Sachbuchreihe „Wie wir leben wollen“, die sich mit sozialer Herkunft, dem Recht von Frauen auf Selbstbestimmung über ihre Körper und gesellschaftlichem Wandel beschäftigt. Die Autorin hofft, dass sich durch ihr Buch etwas in der Wahrnehmung auf die Geburtshilfe verändert und Selbstbestimmung deren Grundlage wird. Sie möchte noch mehr über das Thema Geburten schreiben, Vorträge halten, mit Ärzten und Ärztinnen ins Gespräch kommen. Ihr Fazit: Es gibt noch viel zu tun.
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