Seit mehr als 20 Jahren lebt die deutsche Soziologin Anita Bestler auf Sizilien. Die Erforschung der sizilianischen Mafia wurde zu ihrer Lebensaufgabe. Provokant prangert sie in ihrem kürzlich erschienen Buch italienische Politiker an und räumt mit den Mythen rund um die „Ehrenwerte Gesellschaft“ auf. Italien-Korrespondentin Helen Hecker hat sie interviewt.
Haben Ihrer Meinung nach viele Deutsche eine falsche Vorstellung von der Mafia?
Absolut. Ich frage zum Beispiel gern deutsche Besucher in Palermo, wie viele Mafiosi es ihrer Meinung nach auf Sizilien gibt. Dann höre ich meistens Zahlen zwischen einer und zwei Millionen. Das ist wirklich ganz falsch! Die meisten wissen beispielsweise nicht, dass nur relativ wenige Personen Mitglieder der Mafia sind. Zudem haben Filme wie „Der Pate“ zu einem romantisierenden Bild der Mafia beigetragen.
Was heißt Mafia also wirklich?
Redet man von der Kriminellen-Organisation, so gehören rund 5.000 Personen der Mafia an, von denen viele der sozialen Unterschicht entstammen. Was die Mafia von der normalen Kriminalität unterscheidet, ist ihre enge Verbindung zu den gesellschaftlich Mächtigen. Personen aus der „besseren Gesellschaft“ – vor allem aus der Politik – benutzen Kriminelle, um ihre politischen Ziele und schmutzigen Deals durchzusetzen. Im Gegenzug dafür decken sie die Geschäfte der Mafia. Zu denen gehören heutzutage nicht nur Schutzgelderpressung, Drogengeschäfte und Glücksspiele, sondern auch Millioneninvestitionen in die Abfallwirtschaft und erneuerbare Energien. Zudem ist das Abschöpfen europäischer Fördermittel ein wichtiger Geschäftszweig der Mafia, wie jüngst der „Fall Nebrodi“ zeigte. Auch wenn Politiker*innen somit meist selbst keine Mitglieder der Mafia sind, machen sie diese erst zur kriminellen Organisation. Für mich ist die Mafia also der „bewaffnete Arm der Politik“. So ist sie entstanden und das ist sie bis heute geblieben.
Sie haben Ihr Buch Lenin Mancuso gewidmet. Warum und wer verbirgt sich hinter dem Namen?
Mancuso war ein ehrlicher Polizist, der mit seinem Freund, dem Ermittlungsrichter Cesare Terra Nova, über 20 Jahre lang versuchte, die Mafia zu bekämpfen. Dafür haben die beiden einen sehr hohen Preis gezahlt: ihr Leben. Lenin Mancuso war aber auch der Vater meines Ehemannes Franco Mancuso, mit dem ich seit vielen Jahren über das Thema diskutiere und der mir geholfen hat, den Schlüssel zum Verständnis der Problematik „Mafia und Politik“ zu finden.
Im Vorwort schreiben Sie, dass Ihr Mann Ihnen geholfen hat, einige italienische Merkwürdigkeiten zu enträtseln. Was war denn für Sie anfänglich das Schleierhafteste?
Für mich war die Mafia ein rätselhaftes Mysterium. Ich begriff nicht, warum der Staat es bislang nicht geschafft hat, das Problem Mafia zu beseitigen. Ich habe nicht verstanden, welche Rolle Politik, Justiz und Polizei wirklich spielen. Nach der typisch deutschen Vorstellung betrachtete ich beispielsweise die Polizei als „Freund und Helfer“. Ich kam also völlig naiv mit meinen Heldenvorstellungen im Kopf nach Sizilien. Dann musste ich jedoch feststellen, dass nicht alles so weiß und schwarz ist, wie es aussieht, sondern dass es sehr viele Grautöne gibt.
War es also die Geschichte Ihres Schwiegervaters, die Sie zum Buch inspirierte?
Nein, ich hatte schon fünf Jahre, bevor ich meinen Mann kennengelernt hatte, angefangen, mich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Damals habe ich mit vielen Personen zum Beispiel aus der Anti-Mafia-Bewegung, aber auch mit Sozialarbeitern, Unternehmern oder Polizisten gesprochen. Nicht zuletzt aber dank meines Mannes wurde mir später erst so richtig klar, was Sache ist.
Sie leben seit mehr als 20 Jahren auf Sizilien. Warum gerade diese Insel?
Die Insel Sizilien hat ihre Schatten-, aber auch ihre Sonnenseiten. Ich kam mit einem Habilitationsstipendium der Universität Regensburg nach Palermo. Als Ethno-Soziologin hatte ich mich auf Mittelmeer-Kulturen spezialisiert und Politik hatte mich schon früh fasziniert. Mit 17 bin ich in eine Partei eingetreten, weil ich die Welt verbessern wollte. Nach 13 Jahren Parteiarbeit stellte ich dann fest, dass ich meine Ziele innerhalb einer Partei nicht erreichen würde, sondern mich die Partei vielmehr negativ veränderte. Das war der Moment, in dem ich begann, mich wissenschaftlich mit den Schattenseiten der Politik zu beschäftigen und der Frage nachging: Warum funktionieren Demokratien nicht so, wie sie sollten? Ein Thema, das letztlich zu meiner Lebensaufgabe wurde.
Und auf Sizilien stießen Sie auf fruchtbaren Boden zur Erforschung des Themas?
Auf Sizilien – beziehungsweise generell in Italien – gibt es nicht nur Vetternwirtschaft und Korruption, sondern es kommt noch erschwerend die mafiose Gewalt hinzu. Das ist die schwärzeste Schattenseite der Politik und ich wollte verstehen, warum sich dieses Problem nicht aus dem Weg schaffen lässt. Nachdem ich es heute so einigermaßen verstanden habe, kenne ich immer noch keine Lösung und vielleicht gibt es auch keine. Mit meinem Buch möchte ich aber zumindest den Finger in die Wunde legen. Die Demokratie ist sicher die bestmögliche Staatsform überhaupt, aber sie ist in meinen Augen in den meisten Ländern der Welt – und das gilt auch für Europa und Italien – bislang ein noch unerreichtes Ideal.
Sie bezeichnen die italienische Demokratie als mafiose Demokratie. Können Sie das erklären?
Der etwas provokative Begriff stammt von dem italienischen Rechtsphilosophen Panfilo Gentile. Ich verwende ihn etwas anders und bezeichne die italienische Demokratie deshalb als mafios, weil die Gesellschaft Politikern de facto zugesteht, mafiose Gewalt als Mittel der Politik zu nutzen, indem sie es hinnimmt. Das beste Beispiel dafür ist Andreotti: Der ehemalige italienische Staatspräsident wurde vor Gericht der Anstiftung zum Mord an dem Journalisten Mino Pecorelli und der Verwicklung mit der Mafia beschuldigt. Obwohl seine Schuld zum Teil nachgewiesen werden konnte, ist er aber ohne Verurteilung als Senator auf Lebenszeit gestorben. Über Berlusconi müssen wir erst gar nicht reden… Den meisten Politikern, die mit der Mafia zusammengearbeitet haben und das immer noch tun, ist also bislang so gut wie nichts passiert. Das hängt meines Erachtens damit zusammen, dass in Ländern wie Italien keine öffentliche, sondern eine private Moral vorherrscht. In Gesellschaften, in denen dagegen die öffentliche Moral überwiegt, wird von Politikern erwartet, dass sie dem Gemeinwohl dienen. Verstoßen sie dagegen, führt das zu Zorn und schließlich Konsequenzen, wie beim Rücktritt von Guttenberg oder Möllemann. In Ländern mit einer privaten Moral – und zwar keineswegs nur in Italien – lösen solche Fälle keine Skandale aus, sondern werden eher belächelt.
Ist es als Ausländerin und vielleicht insbesondere als Frau auf Sizilien schwer, über solche Themen ins Gespräch zu kommen?
Nein, ich glaube sogar, dass Frausein ein Vorteil ist, weil man unterschätzt wird. Erst recht als deutsche Frau! Die meisten Einheimischen glauben, dass Deutsche oder Personen, die anderswo aufgewachsen sind, keine Chance haben, wirklich zu verstehen, was die Mafia bedeutet. Teilweise haben sie damit auch nicht ganz Unrecht. Wenn man hierherkommt, um zum Beispiel Urlaub zu machen, ist es fast unmöglich, etwas zu begreifen. Ich glaube auch nicht, dass ein oder zwei Interviews dafür ausreichen.
Und die Italiener*innen selbst? Verstehen sie bis ins Detail, was Mafia bedeutet?
Nein, genauso wenig. Ich glaube natürlich, dass viele dieses Problem verstehen wollen. Aber dass es auch ein recht komplexes Phänomen ist, mit vielen Widersprüchen. Viele versuchen einfach, ihr Leben zu leben, ohne sich allzu viele Gedanken zu machen.
Ist es nicht zuletzt auch eine Form von Resignation?
Resignation und Fatalismus. Viele können sich überhaupt nicht vorstellen, dass die Gesellschaft anders funktionieren könnte. Und damit meine ich speziell die bildungsfernen Schichten.
Haben Sie das Gefühl, dass sich in den vergangenen 20 Jahren daran etwas geändert hat?
Es gab eine große Aufbruchsstimmung in der Zeit der Anti-Mafia-Bewegung. Damit meine ich speziell die 1980er und 1990er Jahre, als viel Blut vergossen wurde und man die Hoffnung hatte, dass sich nachhaltig etwas verändern könnte. Diese Momente gab es immer wieder in der Geschichte. Vor allem nach spektakulären Morden an hochrangigen Persönlichkeiten versuchte die Politik, die aufgebrachte Bevölkerung mit allerlei Maßnahmen wie Gesetzesverschärfungen und Schauprozessen zu beruhigen. Sobald das geschehen war, wurden die Aktivitäten wieder zurückgeschraubt. Wirkliche Veränderungen sehe ich daher nicht. Die Mafia macht unverdrossen weiter.
Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando warnte mit dem Ausbruch des Corona-Virus davor, dass die Pandemie die Mafia erstarken lässt. Was halten Sie davon?
Ich glaube, das ist vollkommen richtig. Und das sagt auch nicht nur Orlando, sondern viele andere. Zum Beispiel veröffentlichte das italienische Kriminalamt zur Bekämpfung der Mafia, kurz DIA, letztes Jahr einen Sonderbericht zum Thema „Covid und Mafia“. Mafia ist immer auch eine Frage des Geldes. Viele, speziell kleinere Unternehmen und Geschäftsleute, mussten aufgrund von Covid-19 schließen, weil sie die Mieten nicht mehr zahlen konnten. Die Mafia hat jedoch weiterhin sehr viel Geld und kann die Betriebe aufkaufen. In Armenvierteln verteilte sie zudem Lebensmittelpakete an Leute, die sich vom Staat im Stich gelassen fühlten. Damit schließt sie eine Lücke im schlecht funktionierenden sozialen System.
Welche Rolle spielen dabei die Frauen in der Mafia?
Darüber ließe sich ein eigenes Buch schreiben, denn die Frauen haben eine ganz wichtige Rolle, wenngleich sie selbst nicht als Mitglied aufgenommen werden. Sie sind diejenigen, die ihre Kinder für ein Leben in der Mafia vorbereiten. Sie geben die entsprechenden Werte weiter und achten darauf, dass die Verhaltensregeln eingehalten werden. Seit Mitte der 1980er Jahre, als viele Mafiosi zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, haben Frauen zudem eine aktivere Rolle in der Organisation eingenommen – zum Beispiel als Postbotinnen, Vermögensverwalterinnen oder Strafverteidigerinnen.
Warum können sie keine Mitglieder werden?
Das hängt mit den mafiosen Wertvorstellungen zusammen. Ihnen zufolge gehören Frauen eben ins Haus und sollen die Kinder erziehen. Das ist nicht nur in den Augen der Mafia die Aufgabe der Frau, sondern gilt auch für weite Teile der Unterschicht.
Wird es also jemals möglich sein, die Mafia zu besiegen?
Ich glaube, das wäre dann möglich, wenn sich die Bevölkerung gegen die mächtigen Hintermänner der Mafia auflehnt und sich die vorherrschende private Moral hin zu einer öffentlichen Moral wandeln würde. Zudem müsste der staatliche Repressionsapparat endlich ernsthaft gegen Mafiapolitiker vorgehen, was aber wegen seiner politischen Abhängigkeit schwierig sein dürfte.
Der deutschen Journalistin Petra Reski drohte die Mafia aufgrund ihrer Veröffentlichungen massiv. Haben Sie Angst, dass Ihr Buch Sie in Gefahr bringt?
Vor der Mafia selbst habe ich wenig Angst. Wenn man hier lebt, kommt man überhaupt nicht umhin, auch mit Leuten aus dem mafiosen Milieu in Kontakt zu treten. Mein Mann zum Beispiel sagt mir immer, dass es ihm egal sei, ob es der Mafioso A, B oder C war, der seinen Vater getötet hat. Ihn interessieren die Auftraggeber. Wenn man also Angst haben muss, dann vor den Leuten hinter der Mafia. Und das sind nicht nur Politiker, sondern auch, wie ich sie bezeichne, die „Büttel der Politik“. Damit meine ich zum Beispiel korrupte Staatsanwälte, Richter, Polizisten. Am allermeisten muss man sich aber vor den Freimaurern der sogenannten verdeckten Logen und dem sogenannten „devianten Geheimdienst“ fürchten. Diese geheimen Netzwerke sind hochgefährlich.
Weitere Infos:
Ihren Ursprung hat die Mafia auf Sizilien im 19. Jahrhundert, wo sie sich selbst auch als „Cosa Nostra“, zu Deutsch „Unsere Sache“, bezeichnet. Der Begriff „Mafia“ leitet sich vermutlich vom sizilianischen Wort „mafiusu“ ab, was so viel bedeutet wie „überlegen“. Weitere mafiose Vereinigungen in Italien sind die neapolitanische „Camorra“, die kalabrische „’Ndrangheta“ und die apulische „Sacra Corona Unita“. Das Buch „Die sizilianische Mafia: Der bewaffnete Arm der Politik“ ist das Resultat der jahrelangen akribischen Recherche der Soziologin und Politikwissenschaftlerin Dr. Anita Bestler und im November 2021 im VS-Springer-Verlag erschienen.
Auf knapp 600 Seiten gewährt Bestler nicht nur einen umfassenden Überblick zur Entstehungsgeschichte und Organisationsstruktur der Mafia, sondern ermöglicht auch einen bisher in deutscher Sprache neuartigen Zugang zum Verständnis eines komplexen Phänomens, welches die politische Entwicklung Italiens von seiner Staatsgründung bis in die Gegenwart prägte. Namentlich erwähnt die 59-jährige Autorin dabei die Verstrickungen zahlreicher italienischer Politiker in die Mafia und erklärt die Korruption innerhalb der Justiz und des Polizeiapparates. Aufsehenerregende Fälle, wie die Festnahme von Bruno Contrada, Chef der palermitanischen Kriminalpolizei und einer der ranghöchsten Funktionäre des Geheimdienstes SISDE, geben so Aufschluss über erwiesene Fakten, die allzu oft wie ein erfundener Krimi wirken.