Über Spanien schwappt ein „Tsunami des Feminismus“: In der Regierung sitzen so viele Ministerinnen wie nirgends sonst in Europa. Doch das führt nur langsam zu mehr Gleichberechtigung. Vor allem Mütter sind benachteiligt.
Von Christine Memminger, Barcelona
Lila T-Shirts und Plakate füllen am Welttag der Frauen die Straßen sämtlicher spanischer Großstädte. Der 8. März ist zwar kein Feiertag, aber seit ein paar Jahren Ausdruck einer feministischen Bewegung, die europaweit in ihrer Größe einzigartig ist. Über fünf Millionen Frauen schlossen sich laut Gewerkschaftsangaben in diesem Jahr dem Feminismus-Streik („Huelga feminista“) an und legten die Arbeit nieder. Darunter Stars wie Schauspielerin Penélope Cruz und Königin Letizia.
Auch die 32-jährige Marta Busquets Gallego war in Barcelona auf der Großdemo für mehr Gleichberechtigung dabei. Sie lächelt triumphierend: „Uns kann nichts mehr stoppen.“ Als sie davon erzählt, genießt ihre Familie bereits die Sommerferien bei den Großeltern, ihre beiden Kinder spielen draußen. Busquets sitzt entspannt im Kinderzimmer, weites T-Shirt, die schwarzen Locken leicht nach hinten gesteckt. Ihr Hauptanliegen im Kampf für mehr Gleichberechtigung ist die Verbesserung der Situation für spanische Mütter.
Busquets selbst musste nach der Geburt ihrer Tochter Astrid vor fünf Jahren ihre Festanstellung als Anwältin aufgeben. Sie stand vor der Wahl, sich ganz der Kindeserziehung zu widmen – oder der Karriere. Beides ist in Spanien nur schwer vereinbar. Es gibt zwar viele Betreuungsangebote. Doch der Arbeitsmarkt ist unflexibel und die Unterstützung durch den Staat gering. Bei einer hohen Arbeitslosenquote von 14 Prozent ist die Lage für alle angespannt. Wer mehr Zeit mit seinen Kindern verbringen möchte, riskiert seinen Job. Als Frau umso mehr, denn sie arbeiten häufiger in prekären Verhältnissen, mit befristeten Verträgen und verdienen weniger. „Dieses System bestraft die Mütter“, sagt Busquets. „Das ist höchst besorgniserregend.“
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Das Thema Gleichberechtigung ist in Spanien topaktuell. Die Zeitung „El País“ bezeichnet die Bewegung als „Tsunami des Feminismus“, der seit etwa zwei Jahren über Spanien fege. Medial wird dieser „Tsunami“ intensiv begleitet. Auch die Journalistinnen haben am 8. März für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt. Und sie berichten an prominenter Stelle über weibliche Opfer von Gewalttaten oder das Recht auf Selbstbestimmung und stellen vermehrt Frauen in Führungspositionen vor.
Dabei ist es nicht so, dass die Ungleichheiten in Spanien größer sind als beispielsweise in Deutschland, insgesamt liegt Spanien laut EU-Gleichberechtigungsindex 2017 im europäischen Mittelfeld. Aber: Die Aufmerksamkeit ist eine andere. Man könnte sagen, dem Machismo geht es an den Kragen. Denn auch die Politik stellt das Thema inzwischen ganz oben auf die Tagesordnung. Im Wahlkampf wurde leidenschaftlich über den Schutz weiblicher Opfer von Gewalttaten gestritten, über gleiche Bezahlung und sogar die Steuer auf Tampons. Ministerpräsident Pedro Sánchez bezeichnet sich sogar öffentlich als Feminist. In seiner sozialistischen Regierung sind 11 von 18 Posten mit Frauen besetzt –erstmals hat eine spanische Regierung seit 2018 damit mehr Ministerinnen als Minister, europaweit die meisten.
„Die Politiker sind gezwungen, feministische Themen zu diskutieren“, meint Wissenschaftlerin Gema García Albacete in einem Interview vor den letzten Wahlen im April. Sie untersucht das politische Verhalten unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und sieht vor allem zwei Ursachen für die „gewaltige feministische Mobilisierung“: Erstens, dass die konservative Volkspartei vor ein paar Jahren das Abtreibungsrecht verschärfen und zurück zum rigiden Recht der 1980er Jahre wollte. Sie scheiterte unter massiven öffentlichen Protesten.
Und zweitens, dass es seit 2017 eine erhöhte Aufmerksamkeit für „violencia machista“, die Gewalt von Männern an Frauen, gibt. Denn in Spanien wurde zeitgleich zur MeToo-Debatte der Fall einer brutalen Vergewaltigung an einer 18-Jährigen in Pamplona verhandelt und in erster Instanz ein mildes Urteil gesprochen. „Wie heftig die Reaktionen darauf ausfielen, war eine Überraschung für die spanische Gesellschaft und vor allem für die spanische Politik“, sagt García Albacete. Seitdem mobilisieren Feminist*innen auf ihren Kundgebungen regelmäßig Zehntausende. Dabei geht es längst um das große Ganze.
Spanische Mütter werden benachteiligt
Besonders deutlich wird die Benachteiligung im Fall der Mütter. Marta Busquets formuliert es drastisch: „Kinder bekommen bedeutete für mich: Harte Einschnitte im Einkommen, harte Einschnitte in den Karrierechancen, prekärere Verhältnisse. Deshalb sagen mir auch viele, sie können es sich nicht leisten, Kinder zu kriegen.“ Die 32-Jährige kommt aus Barcelona, ihre Eltern gehören zur Mittelschicht. Sie studierte und arbeitete zwischenzeitlich im Ausland. Auf der Karriereleiter als Anwältin ging es für sie steil bergauf. Kurz bevor sie schwanger wurde, verdiente sie doppelt so viel wie ihr Mann als Volkswirt.
Bei ihren älteren Kolleginnen beobachtete sie ein „typisch spanisches Phänomen“, wie sie es beschreibt. Um auf dem angespannten Arbeitsmarkt bloß nicht den Job zu verlieren, schoben sie die Kinderfrage immer weiter nach hinten. „Um mich herum sind alle erst um die 40 Mutter geworden, 35 war schon früh.“ Zwar sind in Spanien Hormonbehandlungen, künstliche Befruchtung und Eizellenspende erlaubt, die Krankenkasse übernimmt die Kosten in den meisten Fällen sogar. „Aber für mich stand fest: Das will ich nicht“, sagt Busquets.
Nachdem ihre Tochter Astrid vor fünf Jahren auf die Welt kam, folgten das Maximum von 16 Wochen bezahlter „Mutterzeit“, wovon sechs Wochen verpflichtend sind, und danach die Arbeitslosigkeit. Denn Busquets wollte ihr Kind vor dem zweiten Geburtstag nicht in die Kita geben, hätte kürzere und flexiblere Arbeitszeiten gebraucht. Unter diesen Umständen wurde ihr Vertrag nicht verlängert.
Zwar gibt es in Spanien für Eltern ein Recht auf Teilzeit, doch in der Praxis wird es kaum umgesetzt. Teilzeitmodelle sind wenig verbreitet, und wenn, dann in niedrig bezahlten Berufen. Wer beruflich für Kindererziehung aussetzt, muss mit Jobverlust rechnen. Gerade erst hat die Europäische Kommission das Land aufgefordert, insgesamt mehr Geld für Familien auszugeben, weil jedes dritte spanische Kind von Armut bedroht ist.
Inzwischen hat sich Marta Busquets als Anwältin und Autorin selbstständig gemacht, veröffentlicht einen Podcast. Vor zwei Jahren bekam sie noch einen Sohn und arbeitet jetzt an den Wochenenden, nachts oder wenn sich ihr Mann um die Kinder kümmert. Die meisten Spanierinnen haben diese Möglichkeit oder den Mut nicht. Da auch Vätern aktuell nur acht Wochen Elternzeit zustehen, übernehmen spätestens ab dem Alter von einem halben Jahr die Großeltern oder – in 38 Prozent der Fälle – Kitas die Betreuung. „Ich habe Freundinnen, die ihre Kinder von 7 bis 19 Uhr in privaten Kitas lassen“, erzählt Busquets. Sie bereue ihre eigene Entscheidung nicht, fordert aber eine Wahlfreiheit und in jedem Fall bessere finanzielle Unterstützung für Mütter.
Hoher weiblicher Anteil in spanischen Parlamenten
Mit ihrer Forderung ist sie nicht allein, die feministische Bewegung kommt in der Regierung an. Im Moment ist es eine Übergangsregierung, denn die Koalitionsverhandlungen zwischen den Sozialisten (PSOE) und der Linken (Podemos) sind gescheitert, im November wird neu gewählt. Deshalb stehen die Ministerinnen und Führungsfrauen der PSOE derzeit auch nicht für Interviews zur Verfügung. Keine Zeit abseits des aktuellen Geschehens, heißt es. Dabei könnten sie sich mit vielen feministischen Ansätzen rühmen: So wird die Elternzeit für Väter bis 2021 auf 16 Wochen aufgestockt. Diese sind zwar nicht flexibel auf die Mütter übertragbar, was Marta Busquets bemängelt. Aber immerhin. Die PSOE brachte zuletzt auch ein Gesetz auf den Weg, mit dem der Gender Pay Gap, also der Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen, bekämpft werden soll.
Erstmals leitet die Vizepräsidentin gleichzeitig das Ministerium für Gleichberechtigung. Und auch sonst wird die spanische Politik immer weiblicher. Seit 2007 schreibt das Wahlrecht vor, dass mindestens 40 Prozent der Listenplätze von Frauen besetzt sein müssen. Das führt zu einer hohen Quote von Politikerinnen in Parlamenten auf allen Ebenen. Die Sozialisten unter Pedro Sánchez übertreffen die Vorgabe sogar noch: Ihre Listen waren bei der letzten Wahl komplett im Reißverschlussverfahren abwechselnd mit Frauen und Männern belegt.
Fehlen nur noch die Spitzenkandidatinnen. Auf regionaler und kommunaler Ebene führen bereits immer häufiger Frauen ihre Parteien im Wahlkampf, doch um das Amt des Ministerpräsidenten konkurrierten bisher nur Männer. Die Politologin Gema García Albacete bezeichnet den politischen Führungsstil als „noch immer sehr maskulin, sehr aggressiv“. Und sie weist darauf hin, dass im Moment auch die Gegenbewegung mit einer deutlich männlichen Wählerschaft erstarkt. Erstmals sitzt die rechtspopulistische Partei „Vox“ im spanischen Parlament. „Deren stark antifeministische Ausrichtung zielt direkt gegen die Rechte und die Gleichheit von Frauen“, so die Politikwissenschaftlerin.
Marta Busquets findet das beunruhigend. Sie malt sich für ihre Tochter Astrid eine Zukunft mit gleichen Löhnen und einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf aus. Die Chancen stehen gut. Vor allem junge Menschen sind in den letzten Jahren deutlich feministischer geworden. Laut dem aktuellen „Barometer für Jugend und Gender“ bezeichnen sich inzwischen 62 Prozent der Spanierinnen unter 30 Jahren als Feministinnen und 66 Prozent nehmen die Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern als „sehr groß“ wahr. Auch die Hälfte der jungen Männer stimmt dieser Aussage zu und 37 Prozent von ihnen bezeichnen sich als Feministen. Feminismus liegt in Spanien im Trend.
Info: Kooperation mit der Frankfurter Rundschau
Dieser Artikel ist der dritte in unserer achtteiligen Serie „Wie emanzipiert ist Europa?“. Dabei kooperieren wir exklusiv mit der Frankfurter Rundschau. Mit der Serie wollen wir beleuchten, wo es in Europa in puncto Gleichberechtigung besonders gut läuft und wo es noch Nachholbedarf gibt. Die nächste Geschichte erscheint Mitte Oktober und handelt von der Emanzipation in Lettland.