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Das Streben nach Identität
Karibische Kultur in Frankreich

26. Mai 2021 | Von Giorgia Grimaldi
Mona Georgelin hält in der Hand die emblematische Lambi-Muschel. Die Schnecke gilt als Delikatesse, die Muschel wird als Flöte benutzt.

Südsee-Schönheiten, Traumstrände und Rum: Die meisten verbinden mit der Karibik ein romantisiertes und auf den europäischen Gusto reduziertes Insel-Idyll. Mona Georgelin hat genug davon und kämpft mit ihrem Verein „Mamanthé“ dagegen an. Ihr Motto: Kultur statt Klischee.

Von Giorgia Grimaldi, Marseille                                                          

Konflikte mit der kolonialen Vergangenheit sind in französischen Medien ein Dauerbrenner. Hitzige Debatten über Raubkunst in den Pariser Museen oder Emanuel Macrons historisches Eingeständnis, den Krieg um Algerien als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anzuerkennen, erwecken den Eindruck, dass die französische Gesellschaft einen aufgeklärten Umgang mit ihrer Geschichte pflegt. Doch ist dem wirklich so?

Frankreich hat – im Vergleich zu anderen ehemaligen Kolonialmächten – im großen Stil Teile der früheren „Errungenschaften“ als sogenannte Übersee-Departements und Gebietskörperschaften behalten: insgesamt 13 Regionen oder Inselkomplexe, die über den gesamten Globus verteilt sind. Dazu gehören unter anderem die französischen Antillen (Guadeloupe, Martinique, Saint-Barthélemy und Saint-Martin), auch „West Indies“ genannt. Als französisches Staatsgebiet sind sie Teil der EU.

Die Reise in den Karibikurlaub gilt damit als Inlandsflug, die Amtssprache ist Französisch und der Gang zur Geldwechselstube erübrigt sich. Die sogenannten „métropolitains“, die Französinnen und Franzosen des Festlandes, wissen die Exotik zum Vorteilspreis zu schätzen, aber begreifen den kolonialen Hintergrund dieses Privilegs oft nicht und laufen damit Gefahr, unwissentlich rassistische Klischees und Machtgefälle zu reproduzieren.

Ein Imageproblem

Sinnliche Tänze mit viel Körperkontakt, Reggea und Dreadlocks gelten als „typisch karibisch“, Ornamente im Haar und goldener Schmuck als „der lokale Look“. Diese Elemente sind die bekanntesten der karibischen Kultur, obwohl sie nur an der Oberfläche kratzen und eigentlich das Vermächtnis einer von Genozid, Sklaverei und Ausbeutung geprägten Geschichte darstellen.

Creolen beispielsweise, die runden Ohrringe, die auch in Deutschland sehr beliebt sind, und Manschettenarmbäder waren Symbole der Sklaverei – sie signalisierten, dass der Mensch jemandem „gehörte“. Auch der karibische Rum, der es zur globalen Berühmtheit geschafft hat, ist ein Rudiment dieser Vergangenheit, war er doch zunächst nur ein Abfallprodukt der von Europäer*innen geführten Zuckerproduktion.

Aber über Universitäten und Forschungseinrichtungen, die es in der Karibik gibt, Literatur und Theater, Feste und Bräuche sprechen „métropolitains“ und andere Tourist*innen nur selten. Denn im vermeintlichen Urlaubsparadies mag kaum eine*r über Imperialismus und Zuckerbarone nachdenken. Die Folge: Über die wahre Kultur der Antillen weiß die französische Bevölkerung wenig und stellt den Bezug zu ihrer eigenen Geschichte nicht her.

Dabei wäre ein Flug über den Atlantik gar nicht nötig: Das französische Statistikamt meldet im Jahr 2018: Mehr als 350.000 „Westindies“ leben in Kontinental-Frankreich. In den Ballungsräumen Paris und Marseille machen sie acht Prozent oder knapp 20 Prozent der Bevölkerung aus. Trotzdem findet die karibische Kultur kaum Sichtbarkeit geschweige denn Anerkennung.

Mamanthé, Martinique (Foto: Mona Georgelin).

Oma als Vorbild 

Mona Georgelin, eine freiberufliche Webmasterin in Marseille, Gründerin und Vorsitzende des Vereins „Mamanthé“, will genau das ändern. Sie verließ als Kleinkind mit ihrer Mutter die Karibik und kam in die Mittelmeermetropole. Den Verein benannte sie nach ihrer Großmutter. „Mamanthé“ wurde am 24. September 1897 auf Martinique geboren – nur 50 Jahre nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien – und starb dort 2000. Sie ist Mutter von 18 Kindern und hatte 78 Enkelkinder.

„Sie war eine atypische Frau für ihre Zeit. In ihrem Gesicht strahlte mir stets Lebenserfahrung und Weisheit entgegen, aber auch ihr hohes Alter machte mir irgendwann klar, dass sie das lebendige Zeugnis unserer Kultur ist“, erinnert sich Georgelin. Die kreolische Kultur ist das Ergebnis von Marginalisierung und Rassismus. Ein kreolischer Mindset, das heißt gelebter Multikulturalismus und die Identifizierung abseits von Rassifizierung, Klassengesellschaft und Ländergrenzen, ist aber auch der Schlüssel zur Überwindung ebendieser Probleme. „Mamanthé wurde nie müde, das zu predigen“, sagt ihre Enkelin.

 

Karibik-Kolonien und Kreolismus

Im 15. Jahrhundert landeten zunächst spanische, später auch französische, britische, portugiesische und niederländische Expeditionsflotten auf der Suche nach Indien in der Karibik. Die Antillen stellten sich als profitables Land heraus und die Kolonialmächte entwickelten den „transatlantischen Dreieckshandel“: In den karibischen Kolonien bauten sie Tabak, Baumwolle und Zucker an und brachten die Produkte nach Europa. Europäische Waren tauschten sie in Afrika gegen Menschen, die sie als Sklav*innen für Plantagenarbeit in die Kolonien verschleppten. Die indigenen Völker, die bereits vor der Ankunft der Europäer*innen die Antillen bewohnten, wurden ausgerottet oder ebenfalls versklavt. Von diesen präkolonialen Kulturen ist heute kaum noch etwas übrig, es entstand Kreolismus: der Sprach- und Kulturkontakt zwischen Kolonisten*innen, Indigenen (auf den Antillen vorwiegend Arawaks und Kariben) und Afrikaner*innen. Daraus entwickelte sich eine Subkultur mit eigener Sprache, das Kreolische (vermutlich von Spanisch criar, zu Deutsch. „züchten, erschaffen“). Heute ist die karibische Bevölkerung Teil einer sehr jungen Kultur, die aufgrund der Entstehungsgeschichte noch immer eine Identitätskrise erlebt. Da die kreolische Kultur der Antillen einen Teil der afrikanischen Diaspora darstellt, wird auch von „afro-karibisch“ gesprochen.

 

One-Woman-Show wird zur Institution

Im Jahr 2007 beschloss Mona Georgelin, das Werk ihrer Großmutter in der Gründung des Vereins zur Förderung afro-karibischer Kultur zu verewigen. Zunächst entstand eine Website, die Informationen über Geschichte, Politik, karibische Literatur und eine kulturelle Agenda enthielt. „Die Idee wurde sehr gut aufgenommen, denn all dies gab unserer Kultur Sichtbarkeit.“ Schritt für Schritt vernetzten sich auch andere lokale Organisationen mit „Mamanthé“, darunter zum Beispiel der Verein „Mam’Ega“, der sich gegen Analphabetismus und Ausgrenzung engagiert, sowie das Kunstkollektiv „MassiliaKA“.

Heute hat „Mamanthé“ 15 aktive ehrenamtliche Mitglieder, die die verschiedenen Vereinsaktivitäten betreuen und eine große Community aus Partner*innen, Gelichgesinnten und Unterstützer*innen. Das Team verhilft karibischen Künstler*innen in Südfrankreich zu mehr Reichweite, veranstaltet literarische Treffen und organisiert wöchentlich die sogenannten „Ateliers solidaires“: Workshops für kreolische Musik, die von Instrumenten wie der Chacha, einer Rassel aus getrockneten Früchten, begleitet wird, und Tanz, wie zum Beispiel Bèlè, Gwo Ka oder Konpa, die als Akt des Widerstandes in Zeiten der Sklaverei entstanden.

Mona Georgelin nach einem Tanzworkshop (Foto: Chris Boyer).

Dieses Angebot richtet sich vor allem an finanziell und sozial benachteiligte Menschen. Seit Beginn der Pandemie und bis Kulturzentren wieder öffnen dürfen, finden die Kurse über Zoom statt. Für die Teilnehmer*innen ist dies während der strikten Lockdown-Politik Frankreichs aber nur ein schwacher Trost, denn Solidarität in der Ein-Zimmer-Sozialwohnung ist schwierig.

Seit 2013 organisiert „Mamanthé“ darüber hinaus jedes Frühjahr um den 27. April, dem Tag des Dekrets über die Abschaffung der Sklaverei, das hauseigene Festival „Kadans Caraib“. „Wir wollten eine Veranstaltung anbieten, die ein Schaufenster der karibischen Kultur, aber auch ein Ort des Austauschs, der Reflexion und der künstlerischen Verschmelzung sein würde.“ Zuschauer*innen bekommen für geringen Eintritt eine bunte Inszenierung aus Gesang, traditionellem Tanz, zeitgenössischer Kunst und einer kritischen Podiumsdiskussion dargeboten.

Hierfür werden bevorzugt kreolische Künstler*innen aus der Region eingeladen, nicht selten auch aus der Karibik eingeflogen. Finanzielle Unterstützung für dieses Event bekommt der Verein über lokale Subventionen aus Marseille sowie das Ministerium für Übersee-Departments. Das für April 2020 geplante Festival musste abgesagt werden. Eine Alternative in Form eines Konzerts via Facebook fand im zweiten Lockdown im November 2020 großen Anklang.

Kadans Caraibe Edition 2019, Marseille (Foto: Chris Boyer).

Die Biografie der Familie Georgelin ist kein Einzelfall – im Gegenteil. Marseille verbindet eine starke Migration mit der Karibik, vor allem Frauen kamen um 1960 in den Süden Frankreichs. Darunter auch Francoise Ega, Namensgeberin des Vereins „Mam’Ega“ und Mutter dessen Gründer*innen, die diese Erfahrungen in ihrem Roman „Briefe an eine Schwarze“ beschreibt. Ihr Sohn Jean-Pierre Ega erinnert sich an diese Zeit: „Sie galt als ungebildet, fand nur Anstellungen als Haushälterin oder Kindermädchen, wurde Opfer von Rassismus, während sie uns ein besseres Leben versprach.“

Bildung für alle

Barrierefreier Zugang zu Bildung hätte vieles erleichtert, deshalb haben die erwähnten Vereine ein ambitioniertes Ziel: Bildung für alle. Dafür kämpfen sie gemeinsam mit Maryse Condé, einer international erfolgreichen Schriftstellerin aus Guadeloupe, die in ihren Romanen das postkoloniale Chaos auf den Antillen beschreibt und dafür den „Alternativen Literaturnobelpreis“ erhielt.

Literarische Treffen Maryse Candé 2016 in Marseille (Foto: Azedine Hsissou).

Seite an Seite entwickeln sie ein Projekt zur Bekämpfung von Analphabetismus in den nördlichen Vierteln von Marseille, wo die meisten Migrantin*innen der Hafenstadt leben. Zu diversen Anlässen werden interaktive Lesungen für Jugendliche organisiert. Aktuell gründen die beiden Vereine sogar noch eine weitere Initiative:das südfranzösische Kollektiv für das Gedenken an die Sklaverei. Das erklärte Ziel: die Anerkennung der französischen Kolonialgeschichte und eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem Thema in den Schulen.

Nach 13 Jahren zieht Mona Georgelin Bilanz: Das mit Vernetzung und großem persönlichem Einsatz erstellte Vereinsprogramm wird sowohl von weißen „métropolitains“ als auch Kreol*innen, von People of Colour, Migrant*innen und alteingesessenen Marseiller Bürger*innen geschätzt. Keine der Veranstaltungen bleibt unbesucht. Laut der afro-karibischen Community in Marseille und Umgebung gilt „Mamanthé“ als „ihr Medium“, aber auch als erste Anlaufstelle für Neuankömmlinge in der französischen Provinz.

Dennoch gibt es nach wie vor viel zu tun, findet Mona Georgelin:  „Eine der größten Herausforderungen ist leider immer noch die Schwierigkeit, sich als Volk zu identifizieren, das im Kontext der Kolonisierung und Sklaverei entstanden ist. In einer Gesellschaft, die ihre koloniale Vergangenheit noch nicht verarbeitet hat… oder noch nicht verarbeiten will. Und das führt zu fehlender Solidarität zwischen den Völkern.“ Großmutter Mamanthé sagte Lebzeiten stets, es gäbe nur einen Weg, die Konflikte der Vergangenheit zu überwinden: „Lyannaj“ – „Einigkeit“ auf Kreolisch.

 

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Von Giorgia Grimaldi, Berlin / Marseille

Giorgia Grimaldi berichtete einige Jahre aus Marseille über Frankreichs Politik und Gesellschaft. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Nachrichtenredakteurin in Berlin. Am liebsten recherchiert sie dabei zu Migration und News aus dem Ausland. Weiterhin hat sie Frankreichs Entwicklungen im Blick und kehrt so oft es geht dorthin zurück.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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