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Das Massaker der Machos
Feministischer Rap aus Chile

6. Mai 2022 | Von Sophia Boddenberg
Im Museo del Estallido Social, einem Museum über die Protestbewegung in Chile, nahm Gata Engrifá einen Videoclip für den Weltfrauentag 2022 auf. Fotos: Gata Engrifá

Ein feministisches Rap-Kollektiv singt mit brutalen Texten von der Gewalt, die Frauen und Mädchen auf dem lateinamerikanischen Kontinent erfahren. Ein Porträt.

Von Sophia Boddenberg, Santiago de Chile

Ihre Haare sind aufgestellt, der Schwanz buschig, die Ohren angelegt, der Rücken zum Buckel gekrümmt – sie ist zum Angriff bereit. Wenn eine Katze sich in diesem Zustand befindet, nennt man sie auf Spanisch eine „gata engrifada“. Davon inspiriert gaben vier Frauen aus Chile ihrem Rap-Kollektiv den Namen „Gata Engrifá“, eine Art Abkürzung. Damit wollen sie ihre Wut ausdrücken, die die alltägliche Gewalt gegen Frauen und die patriarchalen Gesellschaftsstrukturen in ihnen auslösen.  

„Jeden Tag sehen wir Nachrichten von Femiziden, Vergewaltigungen, Entführungen, Missbrauch. Das muss aufhören“, sagt Fernanda Calhueque. Gemeinsam mit Francisca Badilla, Thiare Nine und Francisca Maturana gründete sie 2018 das Kollektiv „Gata Engrifá“. Die vier Frauen Ende 20 haben Schauspiel studiert und lernten sich in der Theaterszene kennen. Alle hatten Erfahrung im Rap und schlossen sich zunächst als Gruppe zusammen, um Freestyle-Workshops zu geben.

„Wir verspürten alle den Antrieb, einen positiven Beitrag zur Gesellschaft zu leisten“, sagt Calhueque. 2018 veranstalteten sie deshalb einen Rap-Workshop in einem chilenischen Jugendgefängnis. Die desaströsen Zustände in den Jugendgefängnissen und Jugendheimen, die beide vom „Servicio Nacional de Menores“ (kurz: SENAME) – dem staatlichen Kinder- und Jugenddienst – verwaltet werden, haben Menschenrechtsorganisationen schon mehrfach kritisiert.

Das Kollektiv rappt immer wieder bei unabhängigen Musikfestivals in Santiago de Chile.

Statistiken zufolge begehen die Hälfte der Jugendlichen, die die Haftanstalten verlassen, innerhalb von zwei Jahren erneut eine Straftat. Bei ihrem Workshop fragten die Frauen von „Gata Engrifá“ deshalb die Jugendlichen, was sie von dem Begriff „Resozialisierung“ hielten, also von ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft. „Wir haben ihnen Stift und Papier gegeben und dabei entstanden Verse“, erinnert sich Calhueque.

Inspiriert von den Reflexionen der Teilnehmer*innen schrieben die Frauen ihr erstes Lied: „Carta a la liberación“, zu Deutsch „Brief an die Befreiung“. „Sie sprechen von Resozialisierung, aber sperren uns ein. Deshalb singe ich dieses Lied. In einem Land der Korruption, drücke ich meine Emotionen aus“, heißt es im Refrain.

Lieder inspiriert von Protesten

Die Verletzung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in den SENAME-Haftanstalten und Jugendheimen sowie die Gewalt gegen Frauen und LGBTQI gehörten zu den Auslösern des sozialen Aufstands in Chile 2019 und 2020. Monatelang protestierten Millionen von Menschen öffentlich gegen soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Auch die Mitglieder von „Gata Engrifá“ demonstrierten auf den Straßen. Sie führten außerdem Performances auf und rappten bei den Protesten.

Und sie fingen an, mehr gemeinsame Songs zu schreiben. Dabei entstand unter anderem das Lied „Aborta tu Conducta“ – „Treib dein Verhalten ab“. „Ich würde abtreiben, wenn ein Frauenmörder, Vergewaltiger oder Drogenhändler daraus wird“, heißt es darin. Es geht um Gewalt gegen Frauen und um Polizeigewalt. Im Rahmen der Proteste zeigten 476 Personen Fälle von sexualisierter Gewalt durch Polizei und Militär an – darunter Vergewaltigungen, Missbrauch und Folter.

Die Region mit den strengsten Abtreibungsgesetzen

Der Titel und Refrain des Lieds weisen außerdem auf das Thema Abtreibung hin. Freiwillige Schwangerschaftsabbrüche sind in Chile nur in drei Fällen erlaubt: nach einer Vergewaltigung, bei Lebensgefahr der Mutter oder bei schwerer Schädigung des Fötus. Lateinamerika ist eine der Regionen mit den strengsten Abtreibungsgesetzen der Welt. Viele Frauen brechen Schwangerschaften deshalb heimlich und ohne medizinische Begleitung ab, was lebensgefährlich sein kann.

Die Forderung nach dem Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung und damit auch auf die Selbstbestimmung über den eigenen Körper steht bei den feministischen Bewegungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent deshalb weit oben auf der Agenda. In Argentinien und Kolumbien wurden die Abtreibungsgesetze vor Kurzem gelockert.

Fernanda Calhueque (links) und Thiare Nine (rechts).

In Chile erreichte die Protestbewegung, dass eine demokratisch gewählte Versammlung eine neue Verfassung ausarbeitet, um die aktuell gültige, die aus der Pinochet-Diktatur stammt, zu ersetzen. In der verfassungsgebenden Versammlung sind auch zahlreiche feministische Aktivistinnen präsent. Sie erreichten unter anderem die Verabschiedung eines Artikels für die Garantie sexueller und reproduktiver Rechte, der das Recht auf Abtreibung beinhaltet. Damit das Realität wird, muss die Verfassung noch bei einem Referendum im September dieses Jahres angenommen werden.

Aber die neue Verfassung würde nicht alle Probleme lösen. „Wir Feministinnen sind wichtig in diesem Prozess des sozialen Wandels, aber es gibt noch viel zu tun. Die Massaker gegen die Frauen hören nicht auf“, sagt Calhueque. „Gemeinsam Texte zu schreiben, zu rappen und zu singen heißt für uns, eine kollektive Stimme zu erheben.“

„Es gibt einen großen Schmerz in Lateinamerika“

Sechs Lieder haben die Frauen bereits gemeinsam geschrieben. Darin geht es um die verschiedenen Formen von Gewalt, die Frauen erleben. Thiare Nine erklärt: „Wir wollen auf den Machismo aufmerksam machen aus einer feministischen Perspektive.“ So heißt ein Lied „Masacre Machista“, das während der Pandemie entstanden ist – auf Deutsch etwa: das Massaker der Machos. Darin geht es um Frauenmorde. „Mamita, das Massaker der Machos schreitet voran“, singen die vier Frauen im Refrain. „Für die Medien sind wir nur eine Ziffer“, heißt es weiter.

Während der Pandemie hat die Gewalt gegen Frauen weltweit zugenommen. Viele waren während der Ausgangssperren Situationen von Gewalt hilflos ausgeliefert. Die extremste Form der Gewalt gegen Frauen ist der Femizid, der Mord einer Frau aufgrund ihres Geschlechts. 4.091 Femizide registrierte die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik CEPAL im Jahr 2020. Lateinamerika ist eine der Regionen der Welt mit der höchsten Anzahl an Frauenmorden.

Francisca Maturana (links) und Francisca Badilla (rechts).

Das Lied sei nicht nur für die Frauen in Chile, sondern für alle Frauen, sagt Francisca Badilla von „Gata Engrifá“. Insbesondere mit den Frauen in Lateinamerika würde sie viel verbinden und das sei nicht nur die Sprache. „Wir haben das Massaker der Kolonialisierung erlebt, deshalb sprechen wir dieselbe Sprache. Es gibt einen großen Schmerz in Lateinamerika, insbesondere unter den Frauen“, so Badilla.

Der Rap sei eine Form, diesen Schmerz zu verarbeiten. Ihre Texte seien brutal und emotional, weil die Realität, die sie erlebten, brutal sei. Alle vier schreiben regelmäßig ihre Gedanken und Gefühle als Verse auf. Bei gemeinsamen Treffen entstehen daraus ihre Lieder.

„Der Rap ist eine Art universelle Sprache. Der Rhythmus und die Poesie verbinden uns“, sagt Francisca Maturana. Die Liedtexte seien inspiriert von ihren eigenen Erfahrungen. „Wir singen, was wir in unserer eigenen Haut erleben. Aber das sind Dinge, die nicht nur wir erleben, sondern viele Frauen. Es ist wie ein Wunde, die wir alle teilen“, sagt sie. Auf sozialen Netzwerken erreichen sie dafür immer wieder frauenfeindliche Kommentare.

Crowdfunding-Kampagne für das erste Album

Seit die Pandemie-Regeln in Chile gelockert wurden, organisiert das Kollektiv Rap-Konzerte auf öffentlichen Plätzen. Immer wieder werden sie von Frauen angesprochen, die sich mit ihren Liedern identifizieren. Sie würden ihnen Kraft geben, weil sie ihnen zeigen, dass sie nicht alleine sind und andere ähnliche Situationen erleben. Als nächstes wollen sie eine EP im Studio aufnehmen – ein digitales Album mit sechs Liedern – damit ihre Musik auch außerdem Chiles gehört werden kann.

„Wir wollen ein Andenken hinterlassen“, sagt Maturana. Ein professionelles Album ist außerdem Voraussetzung, um an Musikfestivals teilzunehmen und in der Branche anerkannt zu werden. Aber in Chile gibt es kaum Finanzierungsmöglichkeiten für Musiker*innen und Künstler*innen. Deshalb hat die Gruppe eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, um die Produktionskosten zu finanzieren.  

Sie wollten bis Anfang Mai 3.000 Euro sammeln, um ein Studio zu mieten, eine*n Toningenieur*in und eine*n Musikproduzent*in zu beauftragen und ein Cover gestalten zu lassen. Das ist ihnen zwar am Ende nicht gelungen, aber entmutigen lassen sie sich deshalb nicht. „Das Leben als Künstlerin in Chile ist ein ständiger Kampf“, sagt Fernanda Calhueque. Keine der vier Frauen hat ein konstantes Einkommen. Die Pandemie hat die Situation noch zusätzlich erschwert. Aber sie hoffen trotzdem, dass sich die Situation verbessern wird. „Wir singen und rappen, weil wir von einer besseren Zukunft träumen.“

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Von Sophia Boddenberg, Santiago de Chile

Sophia Boddenberg berichtet als freie Journalistin für Radio, Online und Print aus Chile und beschäftigt sich mit Themen rund um Frauenrechte und soziale und politische Bewegungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Sie hat Journalistik studiert und ein Masterstudium in Sozial- und Politikwissenschaften Lateinamerikas in Santiago de Chile absolviert. Mehr unter: http://sophiaboddenberg.com.

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