Seit den Anschlägen in Paris im November 2015 ist der Brüsseler Stadtteil Molenbeek weltweit bekannt. Es ist das Viertel, in dem der Drahtzieher der Terror-Attentate wohnte. Das Frauenhaus dort bricht allerdings mit dem typischen Klischee der muslimischen Frau. Hier werden Frauen seit 20 Jahren ermutigt, sich zu emanzipieren und Neues zu lernen.
Von Franziska Broich, Brüssel
Es ist ruhig in den Straßen von Molenbeek an diesem Donnerstagmorgen. Einige Frauen mit Kopftüchern schieben eilig den Kinderwagen den Bürgersteig entlang. Männer sind damit beschäftigt, die Straße zu reinigen. Versteckt in einem Innenhof laden bunte Plakate und warmes Licht zum Verweilen ein. „Hourra“ steht auf dem Fenster des Frauenhauses „Maison des Femmes“ in Molenbeek. Eine Kalligrafin aus dem Viertel hat die verschnörkelten Buchstaben auf die Scheibe gemalt.
„Es heißt ‘Willkommen’ und ‘Sieg der freien Frau’“, sagt die Koordinatorin des Hauses, Noura Amer. Die 46-jährige Psychologin leitet die Einrichtung seit 2003. In diesem Jahr feiert das Haus seinen 20. Geburtstag. Die Emanzipation der Frauen in Molenbeek fördern – das stand von Anfang an auf der Agenda des Projekts, das von der Gemeinde Molenbeek finanziert wird.
Bunte Stühle, ein großer Tisch und ein Regal mit Spielzeug füllen den Mehrzweckraum. Das nüchterne Wort passt eigentlich nicht zu diesem mit Liebe gestalteten Zimmer. An den Wänden hängen selbstgemalte Bilder. Die 61-jährige Rachida El Bakkel lässt sich in die Couch fallen. „Warum warst du am Dienstag nicht beim Aerobic“, fragt die Frau ihr gegenüber, die ihren Namen nicht nennen möchte.
Sie gibt Sportkurse im Haus der Frauen – von Aerobic über Schwimmen bis hin zum orientalischen Bauchtanz. Die Frauen plaudern. An diesem Donnerstag ist El Bakkel für den Nähkurs da. Etwa 400 Frauen kommen jede Woche ins Frauenhaus. Sie alle haben zwei Sachen gemeinsam: Sie sind „Molenbeekoise“ und wollen Neues lernen. „Molenbeekoise“ ist ein Adjektiv und bedeutet so viel wie „aus Molenbeek stammend“.
Die Neugierde, das Interesse, die Energie der größtenteils muslimischen Frauen stehen im Gegensatz zum weitverbreiteten Klischee über das Viertel. Nachdem bekannt wurde, dass der Molenbeeker Salah Abdeslam für die Terroranschläge am 13. November 2015 in Paris mitverantwortlich war, berichteten viele internationale Medien über den Stadtteil. Seitdem hat er einen Stempel: Molenbeek steht für Problemviertel. Dabei wurde in den vergangenen Jahren viel von der Gemeinde in die Integration von Zuwanderern aller Generationen in die belgische Gesellschaft investiert.
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Es gibt ein Jugendparlament, Kulturprojekte und internationale Fußballturniere. Doch abseits des Vorurteils der Islamistenhochburg interessieren sich wenige für das Viertel, in dem immerhin knapp 100.000 Menschen wohnen. In der flämisch-frankophonen Gemeinde leben fast genauso viele Männer wie Frauen. Multikulti ist Molenbeeks Markenzeichen. Zog es um die Jahrhundertwende Spanier, Italiener und Portugiesen ins Viertel, waren es in den 50er und 60er Jahren Marokkaner. Fast die Hälfte der Bewohner hat heutzutage marokkanische Wurzeln, mehr als ein Drittel ist muslimisch.
Starke Frauen als Vorbilder
Es ist kurz vor neun. Immer mehr Frauen kommen in die kleine Eingangshalle. Manche sind 20 Jahre alt, andere 50. Manche tragen ein Kopftuch, andere nicht. Sie begrüßen sich herzlich auf Französisch, Arabisch und in anderen Sprachen. Egal ob bekannt oder nicht, jeder erhält eine freundschaftliche Umarmung.
„Religion spielt hier keine Rolle“, sagt Amer. Klar es sei nicht verboten, darüber zu reden, aber es stehe eben nicht im Vordergrund. „Außer es geht um Alltagsfragen“, fügt Amer hinzu. Einmal wurde etwa ein Workshop mit der muslimischen Theologin Asma Lamrabet angeboten. Es ging um Fragen wie: „Dürfen Musliminnen ins Kino gehen?“ Viele Besucherinnen sind muslimisch, aber nicht alle. In erster Linie geht es darum, sich zu vernetzen, Neues zu lernen und manchmal auch einfach miteinander Spaß zu haben.
Im Treppenhaus hängen Plakate mit bekannten Frauen wie der ehemaligen Premierministerin von Pakistan, Benazir Bhutto, und der mexikanischen Malerin Frida Kahlo. „Sie stammen von einer Demonstration für Frauenrechte, an der wir teilgenommen haben“, erklärt Amer. „Uns ist es wichtig, dass wir nicht nur unter uns bleiben, sondern auch rausgehen.“ Die Frauen hätten die berühmten Vorbilder selbst ausgesucht.
Der unscheinbare Eingang des Hauses verrät nicht, dass das Gebäude fünf Etagen hat. Im zweiten Stock ist Raissa Carrou gerade auf dem Weg in ihre Klasse. Etwa 15 Frauen warten bereits gespannt. Seit zweieinhalb Jahren ist Carrou Französischlehrerin im Haus der Frauen. „Mir macht es besonders viel Spaß, hier zu unterrichten“, sagt sie. Die Frauen kämen mit einer „positiven Energie“ und hätten Lust, zu lernen. Sie gehe meistens gestärkt aus der Stunde, weil der Unterricht soviel Spaß mache. Seit einigen Monaten gibt Carrou auch Informatik. „Das ist besonders wichtig in den heutigen Zeiten“, sagt sie und verschwindet im Klassenraum.
Doch die Ereignisse in Brüssel und der Welt gehen nicht am Haus der Frauen vorbei. „Eine besonders schwere Zeit war nach den Terroranschlägen in Brüssel 2016“, sagt Amer. Wieder kamen einige Attentäter aus Molenbeek. Politiker erklärten, was falsch gelaufen sei im Viertel. Sie kritisierten, dass der Staat zu wenig Einfluss auf die Moscheen habe und zu wenig Wert auf Integration gelegt worden sei.
Zu diesem Zeitpunkt habe es viel Medieninteresse an Molenbeek und auch ihrem Haus gegeben, erinnert sich die Koordinatorin. Doch seitdem habe kein Journalist mehr angerufen. Hat sich Molenbeek seit den Terroranschlägen im März vor fast drei Jahren verändert? „Nein“, sagt Amer bestimmt. Das Bild, das viele Medien vom Viertel gezeichnet hätten, habe nur einen kleinen Ausschnitt widergespiegelt.
„Mir persönlich haben die Anschläge den Elan und die Energie der Zivilgesellschaft hier gezeigt“, sagt sie. Viele Organisationen seien aufgestanden, hätten ihre Stimme erhoben und Präsenz gezeigt. Im Frauenhaus habe es bereits vorher viele Angebote gegeben und danach auch. Sie erläutert, dass sich durch die Anschläge dort nichts verändert habe. Das Stigma des Terrorviertels laste aber trotzdem schwer auf Molenbeek. Geht es um den Terror, fühlten sich viele schnell angegriffen. Sie vermissen das echte Interesse an ihrem Viertel, ihrem Leben, ihrer Vielfalt.
Einzige Brüsseler Gemeinde mit einer Frau an der Spitze
Trotzdem leben die meisten Frauen gerne im Viertel – so wie die 52-jährige Sheikh Jumilbanu. Die Inderin wohnt seit vielen Jahren in Molenbeek. „Besonders mag ich den Reichtum der Kulturen hier“, sagt sie, die seit mehreren Jahren beim Haus der Frauen in der Verwaltung arbeitet. „Sie ist die gute Seele des Hauses“, erklärt Amer. Jumilbanu kennt das Viertel gut. Egal ob Arzt, Kleidung oder besondere Lebensmittel, Jumilbanu weiß, wo man es bekommt.
„Außerdem ist Molenbeek das einzige Brüsseler Viertel mit einer Bürgermeisterin“, sagt Jumilbanu stolz. Bei den Kommunalwahlen im Oktober 2018 machte Catherine Moureaux das Rennen für die sozialdemokratische „Parti Socialiste“. Sie löste Francoise Schepmans ab. Auch über Politik wird im Haus der Frauen gesprochen. Vor den Kommunalwahlen seien alle gemäßigten Parteien eingeladen gewesen, um zu erklären, was sie für die Frauen durchsetzen wollen.
Molenbeek ist die einzige der 19 Brüsseler Gemeinden, die seit 2012 durchgehend von einer Frau regiert wird. „Die Bürgermeisterinnen stehen dafür, dass auch Frauen in unserer Gesellschaft wichtige politische Ämter übernehmen können“, ist Amer überzeugt.
In einem weiteren Gruppenraum teilt Manon Leglise gerade einen Artikel über den heiligen Nikolaus aus. Die Studentin absolviert ihr zehnwöchiges Praktikum im Frauenhaus und unterrichtet die Frauen, die bereits gut Französisch sprechen. „Hier habe ich jeden Tag mit verschiedenen Kulturen zu tun, das mag ich sehr“, schwärmt sie. Doch es gebe auch schwierigere, emotionalere Momente im Frauenhaus, so Leglise. „Einige Geschichte, die mir die Frauen hier über ihre Vergangenheit erzählt haben, haben mich sehr berührt“, erzählt die Studentin. Was genau das war, will sie nicht erläutern, nur so viel – „Es ging um Diskriminierung.“
Diskriminierung, Rassismus und auch Gewalt ist ein Thema für Frauen in Molenbeek und deshalb auch im Frauenhaus. An diesem Donnerstag sitzen im Mehrzweckraum etwa zehn Frauen. Es ist ruhig. In der Mitte des Tischs steht eine Teekanne. Zwei Psychologinnen geben einen Workshop zu Gewalt gegen Frauen. Journalisten sind an diesem Morgen nicht zugelassen, damit ein offenes Gespräch stattfinden kann. „Ich nehme sehr viel mit aus dem Workshop“, erzählt Fatima Bihid danach. Die Methoden, wie Frauen sich in Fällen von Gewalt wehren können oder mit Diskriminierung umgehen, will sie an ihre Tochter weitergeben, sagt sie und lächelt sanft.
Daoudi Tamimonut sitzt auch am Tisch. Die 39-Jährige kommt gerne zu den Workshops, um andere Frauen zu treffen. „Als mein Sohn in die Schule kam, habe ich auch für mich einen Ort gesucht, an dem ich mehr lernen kann“”, sagt sie. Im Haus der Frauen habe sie ihn gefunden. „Ich habe das Gefühl, egal welche Probleme wir haben, hier steht die Tür immer offen.“