„Durchhalten!“ lautet in diesen Tagen die Parole der Freiwilligen in der Ukraine, denn der Krieg im Osten des Landes ist noch immer in vollem Gange. Deshalb machen insbesondere Frauen den Soldaten und Freiwilligen, die an der Front kämpfen, Mut. Zwei Begegnungen jenseits der Hauptstadt Kiew.
Von Pauline Tillmann, Odessa
Ludmila Stowrowa gießt schwarzen Tee in weiße Plastikbecher. Eigentlich ist die 35-Jährige Ingenieurin, aber seitdem der Krieg in der Ostukraine ausgebrochen ist, engagiert sie sich ehrenamtlich. Sie ist eine der unzähligen Freiwilligen, die sich um die Männer kümmern, die an der Front kämpfen. Auch ihr Mann gehört dazu. Er ist Berufssoldat und hat vor zwei Jahren die Krim beschützt. Gebracht hat es nichts, zu groß war die Übermacht der russischen Armee. Die Krim gehört jetzt zu Russland. Damit das Gleiche nicht mit der Ostukraine passiert, kämpfen ihr Mann und seine Kameraden gegen die „Besatzer“, wie sie sie nennen.
Gemeint sind nicht die Separatisten, sondern die vielen tausend russischen Soldaten und Offiziere in den Gebieten rund um Donezk und Luhansk – auch wenn das die russische Regierung offiziell dementiert. „Die ukrainische Armee war in einem erbärmlichen Zustand“, erinnert sich Ludmila Stowrowa. Deshalb hat sie am Anfang vor allem Geld bei Freunden und Bekannten gesammelt, um ihrem Mann und seinen Kameraden anständige Uniformen kaufen zu können.
Dann mussten die Kämpfer mit Essen und Medikamenten versorgt werden. Inzwischen sprechen Beobachter von einem „Staat im Staat“. Die vielen tausend Freiwilligen organisieren sich selbst – unabhängig von der Regierung – und treffen schnell, pragmatisch und effizient Entscheidungen. Es scheint, genau darauf kommt es an, wenn sich ein ganzes Land im Kriegszustand befindet.
„Die Kämpfer sind in meinen Augen echte Helden“
Im Juni 2015 hat Stowrowa ein halbes Stockwerk im Bahnhof von Odessa zur Verfügung gestellt bekommen. Hier können sich Soldaten und Angehörige aufhalten. Am Ende der Holzbänke gibt es einen Raum, kaum größer als zehn Quadratmeter. Dort kocht sie Tee, schmiert Butterbrote oder bietet süßes Gebäck an. „Früher mussten die Männer neben den Bahngleisen frieren, dabei kämpfen sie doch für unser Vaterland – das sind in meinen Augen echte Helden“, sagt die Freiwillige mit Stolz in der Stimme.
Sie legt ein Bündel Fotos auf den Tisch, die sie geschossen hat und die Soldaten und Freiwillige in ihren Uniformen zeigen. Die einen schauen ernst, andere lachen, wieder andere formen ihre Finger zum Victory-Zeichen. Der Glaube an den Sieg ist auch etwas, das der zweifachen Mutter Hoffnung gibt: „Ich glaube daran, dass die Gerechtigkeit siegt – am Ende wird alles gut.“
Gemeinsam mit einer zweiten Freiwilligen ist sie jeden Tag von neun bis 19 Uhr am Bahnhof und versorgt die Männer, die von der Front kommen oder an die Front ziehen. Zuhören, aufmunternde Worte verteilen, Hoffnung schenken, darum geht’s. Ihre beiden Söhne, fünf und elf Jahre alt, müssen auf ihre Mutter weitgehend verzichten. Ihre Großmutter kümmert sich um sie. Anders würde das mit dem Ehrenamt auch gar nicht funktionieren.
Dabei ist die erwachende Zivilgesellschaft in der Ukraine ein vergleichsweise junges Phänomen. Viele Ukrainer haben sich erstmals während des Maidan vor zwei Jahren ehrenamtlich engagiert. Aber danach war für die meisten klar, dass sie es sich nicht mehr – wie nach der Orangenen Revolution 2004 – leisten können, die Hände in den Schoß zu legen.
Sie wollen einen Beitrag leisten, um ihr Land voranzutreiben. Ludmila Stowrowas Beitrag besteht darin, sich um Soldaten zu kümmern und ihnen Mut zuzusprechen. Auch Oksana Gutsalenko hat diesen Auftrag, allerdings engagiert sie sich nicht am Odessiter Bahnhof, sondern im Militärkrankenhaus, zehn Gehminuten entfernt. Davon gibt es im ganzen Land genau acht. Die meisten verfügen über ein Kämmerchen, in dem Freiwillige wie Oksana Gutsalenko sitzen.
Die 35-Jährige verteilt an die Verletzten Socken, Unterwäsche, Zahnbürsten oder Seife. In mehreren Eisenregalen stapeln sich die Sachen, die die Einwohner von Odessa in den vergangenen Monaten abgegeben haben. Oft werden auch Medikamente gebraucht. Dann verfasst Oksana einen entsprechenden Eintrag auf Facebook und die Menschen kommen entweder, um Geld zu spenden oder kaufen die benötigten Medikamente, um sie an die verletzten Soldaten und Freiwilligen zu verteilen.
Theoretisch sollte der Staat diese Medikamente zur Verfügung stellen, aber der ist bereits mit der Versorgung der Armee vollständig ausgelastet. So etwas wie eine gut ausgestattete Berufsarmee war nie notwendig, schließlich hatte man immer den großen Bruder Russland im Rücken. Doch nun ist dieser zum Staatsfeind Nummer Eins geworden. Und auch wenn Europa seine Unterstützung zugesichert hat, wissen sowohl Politiker als auch die Bevölkerung, dass sie den Krieg in der Ostukraine allein bewältigen müssen.
„Ohne die vielen Freiwilligen hätten wir diesen Krieg schon längst verloren“, meint Oksana Gutsalenko. So aber halte man tapfer die Stellung. Woher sie die Kraft nimmt, hierher zu kommen und Stärke zu demonstrieren? „Ich will, dass mein Kind in der Ukraine aufwächst und die meisten haben begriffen, dass es nun an uns liegt, wie es mit diesem Land weitergeht“, so die 35-Jährige.
Aufzugeben ist demnach keine Option – auch nicht für Rachman, der ursprünglich aus Dagestan kommt. Er hat jahrelang in Berg-Karabach gekämpft. Jetzt liegt er mit ukrainischen Kämpfern im Schützengraben: „Russland glaubt, dass man die Ukraine einfach so annektieren kann, weil sie keinem Staatenbündnis angehört und die Armee schlecht ausgerüstet ist, aber das lasse ich nicht zu.“ Deshalb gebe es für ihn nur eine Perspektive: Kämpfen bis zum Schluss.
Ein Krieg, der in Europa kaum mehr interessiert
Auch wenn der Krieg in der Ostukraine aus der Berichterstattung verschwunden ist: Es gibt ihn noch. Jeden Tag werden Menschen bei Gefechten verletzt, nicht selten auch getötet. Die Opferzahl ist inzwischen auf mehr als 9.000 angestiegen. Diejenigen, die überleben, kehren nicht selten traumatisiert zurück. Darüber hinaus mussten mehr als zwei Millionen Menschen ihre Wohnungen und Häuser verlassen. Die meisten befinden sich auf ukrainischem Territorium. Diese und andere Probleme lähmen das Land.
Die Wirtschaft liegt am Boden. Die Lebensmittelpreise steigen unaufhörlich. „Moskau hat spätestens seit der Abspaltung Transnistriens von Moldau gemerkt, dass der Westen auf militärische Konflikte von Nachbarstaaten der EU und der NATO besonders negativ reagiert“, sagt der Politikwissenschaftler André Härtel von der Kiewer Mohyla-Akademie. Das heißt, man schrecke davor zurück, engere Beziehungen mit solchen Staaten einzugehen.
Laut Einschätzung Härtels ist das Ziel Russlands eine kontrollierte Destabilisierung der Ukraine. Der Donbass ist zu Putins politischem Spielball geworden. Diesen werde er nicht so schnell aufgeben, auch wenn das bedeute, dass es weiter Verletzte und Tote geben werde, so Härtel. Gleichzeitig sei bemerkenswert, dass die Idee eines „Neurussland“ – „Noworossija“ – weitgehend aufgegeben wurde. In den russischen Medien sei davon jedenfalls nicht mehr die Rede. Möglicherweise sei man im Kreml auch davon überrascht gewesen, dass vermeintlich russophile Menschen in Charkiw oder Odessa nach wie vor großen Widerstand gegen eine Annäherung an Russland leisteten.
„Ich mache mir keine Gedanken mehr darüber, wie lange der Krieg noch andauert“, sagt die Freiwillige Oksana Gutsalenko. Zu unvorhersehbar seien die Ereignisse in den vergangen Jahren gewesen. Zu unsicher die Zukunft. Doch klar sei, es handele sich bei den Gefechten in den Gebieten um Donezk und Luhansk nicht um ein paar Schusswechsel oder einen „Konflikt“. Das, was dort passiert, ist Krieg.
Und dieser Krieg hat nicht nur sie, sondern alle Ukrainer bereits jetzt nachhaltig verändert.