Hannah Kiesbye wurde mit Trisomie 21 geboren – doch die Genveränderung behindert die 18-jährige Schülerin nicht auf ihrem Lebensweg. Im Gegenteil: Vor Kurzem hat sie den Bundesverdienstorden erhalten für eine Idee, die bundesweit eine Diskussion um den Begriff der Behinderung ausgelöst hat.
Von Anne Klesse, Hamburg
So etwas hatten Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender bis dato wohl noch nicht erlebt. Bei der Ordensverleihung zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober in Berlin gab es spontan einen weiteren Programmpunkt, der im Protokoll nicht vorgesehen war. Als Pianist Igor Levit Bachs „Aria“ am Flügel anstimmte, überraschte eine der ebenfalls gerade ausgezeichneten Preisträgerinnen die Gäste mit einer Poi-Jonglage: Selbstbewusst ging Hannah Kiesbye nach vorne und ließ zur Musik ihre pinkfarbenen Tücher an Bändern kreisen.
Die 18-Jährige war ohnehin eine Ausnahme unter den Preisträger*innen. In diesem Jahr zeichnete Steinmeier 15 Bürger*innen mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland aus – unter ihnen Hannah Kiesbye aus Halstenbek bei Hamburg, die aufgrund ihres jungen Alters statt einem Bundesverdienstkreuz die sogenannte „Verdienstmedaille“ erhielt. Die Auszeichnung wird für politische, wirtschaftlich-soziale und geistige Leistungen verliehen sowie für alle besonderen Verdienste wie zum Beispiel im sozialen und karitativen Bereich.
Er ist die einzige allgemeine Verdienstauszeichnung in Deutschland und damit die höchste Anerkennung für Verdienste um das Gemeinwohl. Seitens des Bundespräsidialamtes heißt es auf Anfrage wörtlich: „Hannah Kiesbye ist nicht die erste Minderjährige, die mit dem Verdienstorden ausgezeichnet wurde, aber sie gehört zu dem sehr kleinen Kreis derjenigen, denen bereits in so jungen Jahren der Orden verliehen wurde.“
Das Motto der diesjährigen Ordensverleihung „Vereint und füreinander da“ solle für die außerordentlichen Leistungen stehen, mit denen sich die ausgezeichneten sieben Frauen und acht Männer verdient gemacht haben, hieß es weiter: „Sie helfen, die Corona-Pandemie zu bewältigen, fördern das Zusammenwachsen von Ost und West und tragen dazu bei, Vorurteile in unserer Gesellschaft abzubauen.“
Mit letzterem war auch Hannah Kiesbye gemeint. Die mit Trisomie 21 geborene junge Frau hatte eine Idee, die für großes Aufsehen sorgte und bis heute Diskussionsstoff in Sozialverbänden und Politik ist: Sie erfand den „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“. Die Idee entstand 2017, als Hannah Kiesbye beim Eintritt an der Kasse des Schwimmbades nach ihrem Schwerbehindertenausweis gefragt wurde.
Hannah fühlt sich nicht „schwerbehindert“
„In dem Moment wurde mir bewusst, was da eigentlich draufsteht“, erinnert sie sich. „Ich habe gedacht: Ich bin nicht schwerbehindert. So, wie ich bin, fühle ich mich schwer in Ordnung.“ Der Ausweis, den sie für den vergünstigten Eintritt auch in Bus und Bahn oder im Museum vorzeigen muss, und ihre Selbstwahrnehmung als selbstbestimmte Jugendliche, passten für die damals 14-Jährige einfach nicht zusammen.
Der Begriff Behinderung definiert im 9. Sozialgesetzbuch unter anderem die Tatsache, dass ein Mensch in seiner Teilhabe am Leben eingeschränkt ist. Doch Hannah fühlt sich nicht eingeschränkt. Sie geht zur Schule, singt und spielt Klavier, trifft sich mit Freunden, ist Tante der zwei Kinder ihrer älteren Schwester, sie hört gerne Musik der Band „Deine Freunde“ und hat Spaß an der wöchentlichen Zirkusschule, in der sie unter anderem die Pois-Jonglage lernt. „Ich mache eigentlich alles, was andere in meinem Alter auch machen“, findet sie. Ihre Freundinnen und Klassenkamerad*innenen, ob im Rollstuhl sitzend oder mit Spastik: „Jeder ist so, wie er ist. Alle sind toll. Eben schwer in Ordnung.“
Nach dem Schwimmbadbesuch erzählte sie einer Lehrerin von ihren Überlegungen. In der Schule bastelte sie sich dann einen neuen Ausweis: Mit Hilfe eines Universalbeschrifters entstand der offiziell aussehende Schriftzug „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“. Diesen klebte Hannah Kiesbyes so auf die Schutzhülle, dass er die offizielle Bezeichnung „Schwerbehindertenausweis“ überdeckte. Aus einem Gefühl war ein realer Gegenstand entstanden. In der Schreibwerkstatt ihrer Schule verfasste Hannah darüber einen Text für die Schülerzeitung.
Der Artikel erschien später noch einmal in der Publikation des Vereins KIDS Hamburg e.V., dem Kompetenz- und Infozentrum Down-Syndrom, bei dem sie und ihre Eltern sich engagieren. Und er des Artikel wurde tausendfach in den Sozialen Medien geteilt. Darin schrieb sie: „Ich stelle mir vor: Ich hab mir einen Schwer-in-Ordnung-Ausweis gekauft und jetzt stehe ich in Pinneberg an der Bushaltestelle und freue mich. Der Bus kommt, ich steige ein und zeige stolz meinen neuen Ausweis vor. Ich fahre von Pinneberg nach Hause zurück.“ Und weiter: „Zu Hause angekommen staunen Mama und Papa nicht schlecht, als ich plötzlich mit meinem Schwer-in-Ordnung-Ausweis vor ihnen stehe.“
Sprache kann Mauern überwinden, sagt der Bundespräsident
Hannah Kiesbye war gerade mit ihren Eltern im Dänemark-Urlaub. Ihre ältere Schwester rief an und berichtete von der enormen Aufmerksamkeit um den „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“. Kurze Zeit später sicherte die Hamburger Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) in einem Interview zu, dass jede*r, der*die in der Hansestadt einen Antrag beim zuständigen Versorgungsamt stellt, eine solche Ausweishülle von der Behörde bekommen soll: „Diese Aktion und ihre öffentliche Resonanz zeigt mir, dass es aus dem Kreis der Betroffenen das Bedürfnis gibt, diesen Begriff zu diskutieren.“
So erhielt Hannah Kiesbyes Idee bundesweit Aufmerksamkeit und politische Relevanz. „Ich wurde zum Frühstück zur Senatorin eingeladen. Sie fragte mich, wie ich mir diese Hülle gebastelt habe und wie ich darauf gekommen bin.“ Dabei habe sie sich sehr ernst genommen gefühlt. Ernst genommen und gesehen werden, so, wie sie ist – als ganz normale junge Frau – darum geht es der Schülerin.
Ihre Eltern und ihre zwei älteren Geschwister sprechen von „Besonderheiten“ und nicht von „Behinderungen“. Hannah Kiesbye hat im Sommer 2019 die Schule gewechselt und geht nun in die 13. Klasse des Campus Uhlenhorst, einer Hamburger Bildungseinrichtung für Jugendliche mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten. In den nächsten drei Jahren will sie sich in Praktika ausprobieren, bevor sie sich für einen Beruf entscheidet – im Seniorenheim, in der Gastronomie, der Schauspielerei oder als Sängerin. Die junge Frau hat viele Interessen und Talente.
Nach der Verleihung, für die sich Hannah Kiesbye extra ihren ersten Blazer gekauft hat, gab es einen Empfang mit Häppchen und Getränken. Der Bundespräsident und seine Frau gingen zu jedem der aufgrund der Corona-Abstandsregelungen weit verteilten Stehtische und wechselten ein paar Worte mit den Preisträger*innen und deren Begleitungen. „Sie haben gesagt, dass sie sich freuen, dass ich da bin und dass ihnen meine Vorführung gefiel“, erinnert sich Hannah Kiesbye. „Und sie wollten wissen, wo ich das Jonglieren mit den Pois gelernt habe.“
„Sprache kann Mauern überwinden“, hieß es von Bundespräsident Steinmeier bei der Ordensverleihung. Hannah Kiesbyes Initiative habe aufhorchen lassen und „hat bundesweit eine Diskussion angestoßen, in der es nicht nur um eine neue Bezeichnung für einen Ausweis geht, sondern um den veränderten Blick auf Menschen mit Behinderungen.“ Ganz nach dem Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention „Nicht über uns ohne uns“ vertrete sie ihre Interessen. Die von ihr ausgelöste Debatte habe den Blick auf Menschen mit Behinderung verändert und gezeigt, wie wichtig es sei, dass wir auf unsere Sprache achten.
Wer sie für den Verdienstorden vorgeschlagen hatte, wissen die Kiesbyes nicht. Zurück zu Hause wartete ein ganzer Stapel an Glückwunschbekundungen. Die Nachbar*innen kamen vorbei, applaudierten und überreichten ihr eine selbst gebastelte Karte. „Du kannst sehr stolz auf dich sein und wir sind es auch. Du bist toll“, steht darin. Darüber freut sich Hannah Kiesbye bis heute. Und auch ihre Eltern sind gerührt von der Anteilnahme.
Wenn sie jetzt ins Schwimmbad geht oder in den Bus steigt, zeigt die 18-Jährige stolz ihren „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“. Das Original von 2017 nutzt sie mittlerweile nicht mehr. Sie hat die Auswahl zwischen etlichen Kunststoff-Hüllen, die ihr von verschiedenen Bundesländern zugeschickt wurden. Denn mittlerweile gibt es fast überall den „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“. Wie viele bis heute allein in Hamburg ausgegeben wurden, konnte die Sozialbehörde auf Anfrage hin nicht sagen. Die Kontrolleure interessieren sich nach Kiesbyes Eindruck nicht besonders dafür, was genau da draufsteht. Aber für sie selbst macht es einen großen Unterschied.