Durch die Wirtschaftskrise im Libanon können sich viele Menschen kaum noch eine Taxifahrt leisten. Öffentlichen Nahverkehr gibt es nicht. Die Organisation „The Chain Effect“ setzt sich für eine bessere Fahrrad-Infrastruktur und Mobilitätsgerechtigkeit ein.
Von Julia Neumann, Beirut
Für Radfahrer*innen im Libanon sind nicht die Autos das Gefährlichste, sondern die Straße selbst: Schlaglöcher, Unebenheiten und tiefe Löcher, die in die Kanalisation führen. Weil durch die Wirtschaftskrise die Armut gestiegen ist, haben Menschen angefangen, die Gullideckel zu klauen – um das Metall an Schrotthändler weiterzuverkaufen. Das Ministerium für Transport hat kein Geld, sie zu ersetzen.
Auf dem Fahrrad kommen einem auch gerne mal Motorradfahrer*innen entgegen – meist junge Männer, die sich kaum um die richtige Spurrichtung scheren oder an den Autos vorbeiquetschen. Und derzeit liegt noch Gestank in der Luft – der zieht vom Hafen rüber, an dem Weizen fermentiert, der bei der Explosion 2020 aus den Silos verschüttet wurde. Die Atmosphäre im Libanon ist also alles andere als fahrradfreundlich.
Trotzdem fahren von Jahr zu Jahr mehr Menschen Rad, sag Elena Haddad. Die 30–Jährige ist Umweltingenieurin und Co-Gründerin der Organisation „The Chain Effect“. Seit 2014 engagiert sich Haddad mit ihrer Nichtregierungsorganisation für Radfahr-Infrastruktur und besseren Nahverkehr. Sie veranstalten Workshops geben Vorträge, initiieren Kampagnen und kulturelle Aktivitäten wie Ausstellungen. Auf eine Wand in der Nähe der Innenstadt haben sie einen ihrer Slogans gesprüht: „Beirut ist schöner mit dem Fahrrad.“
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Die Zahl der Radfahrer*innen im Libanon steigt
Bei den Radfahrer*innen im Libanon gibt es unterschiedliche Gruppen, erklärt die 30-jährige Haddad. „Die größte Gruppe sind die Sport- und Freizeitradler*innen. Sie machen lange Fahrten in die Berge oder entlang der Küste. Dann gibt es eine wachsende Gemeinschaft von Radler*innen, die in der Stadt unterwegs sind oder zwischen verschiedenen Städten pendeln. Diese Leute benutzen das Fahrrad, um sich im Alltag fortzubewegen. Es ist keine große Zahl, aber man kann sehen, dass sie von Jahr zu Jahr wächst.“
Das liegt nicht nur daran, dass Radfahren gesund ist, sondern auch daran, dass es weniger Geld kostet als das Auto. Haddad sagt, jeder Tag sei ein Kampf nur um Grundbedürfnisse wie den Zugang zu Essen, zu Geld, Elektrizität und Treibstoff. Der Grund: Der Libanon ist pleite, die lokale Währung hat 90 Prozent ihres Wertes verloren. Die Banken geben bereits seit Herbst 2019 keine Dollar mehr aus – sonst ein gängiges Zahlungsmittel für Mieten oder im Restaurant. Die Leute kommen nicht mehr an die Devisen, doch importierte Lebensmittel, Medizin und auch das Benzin sind in Dollar eingepreist.
Haddad hat Umweltingenieurswissenschaften in London studiert, ebenso wie Zeina Hawa, die Co-Gründerin von „The Chain Effect“. „Wir sind zurück in den Libanon gekommen, haben angefangen zu arbeiten und gemerkt, dass es unmöglich ist, sich ohne Auto in der Stadt zu bewegen. Es war schrecklich, wir haben all unsere Zeit in Staus verloren.“ Sie fassten den Entschluss, andere Transportmöglichkeiten aufzuzeigen – zunächst mit Straßenkunst. Sie malten ein Mural im Stadtteil Ain Mraysse: „Wärst du Fahrrad gefahren, wärst du längst angekommen.“ Weil das Wandbild kurz vor dem Beiruter Marathon fertig wurde, hat es viel Aufmerksamkeit bekommen.
Räder und informelle Busse als Alternative zum Auto
„Es gibt durchaus Alternativen zum Auto“, erklärt Haddad. „Es stimmt zum Beispiel nicht, dass wir keinen öffentlichen Nahverkehr haben. Es gibt zum Beispiel informelle Busnetze.“ Nach Angaben der Organisation sind 80 Prozent der Bevölkerung sowohl für private als auch geschäftliche Termine auf eigene Autos angewiesen, 18 Prozent auf Taxis und nur 1,7 Prozent nutzen den informellen Bus. Denn im Libanon gibt es keinen öffentlichen Nahverkehr.
Geschäftstüchtige Familien engagieren daher Fahrer für Minivans oder Busse, die sie auf einer von ihnen festgelegten Route fahren lassen. Die Route orientiert sich an Erfahrungswerten, welche Wege von den Menschen stark frequentiert werden und auf denen demnach ein Sammelfahrzeug gebraucht wird. Weniger als ein Prozent der Menschen im Libanon geht zu Fuß oder benutzt das Fahrrad. Das liegt auch daran, dass es wenig Infrastruktur an Rad- und Gehwegen gibt.
Das hat sich Sommer 2022 schlagartig geändert. Damals bildeten sich lange Schlangen an Tankstellen, weil der Staat den Treibstoff subventionierte. Weil sie nicht wussten, wann die Subventionen enden, hielten Tankstellenbetreiber das Benzin zurück. Warteschlangen vor den Zapfsäulen erstreckten sich über Kilometer – und standen symbolisch für die Krise des Libanon.
Mittlerweile sind die Subventionen aufgehoben, doch die Benzinkrise habe viele dazu gedrängt, aufs Fahrrad umzusteigen, sagt Elena Haddad. Es sei zwar frustrierend, dass Menschen nun zu Alternativen gezwungen würden, aber die 30-Jährige versucht, aus der Not eine Tugend zu machen: „Wir bekommen nun mehr Anfragen, wo es Fahrräder zu kaufen gibt oder ob wir Lichter ausgeben können, damit es sicherer ist.“
Nah an den Bedürfnissen der Menschen
Die Libanesin steht vor einem niedrigen Tunnel, darüber rasen Autos, darunter fahren Motorradfahrer und laufen Fußgänger*innen. Sie tunkt einen Pinsel in einen Eimer mit hellblauer Farbe und zeichnet einen Stern. Sie und ihr Team bemalen die Brücke mit einem bunten Muster, zuvor haben sie den Müll rundherum eingesammelt. So möchten sie die Menschen anregen, die Nachbarschaft zu Fuß zu erkunden und ein bisschen Farbe in das schwierige Leben bringen. Später befragen sie die vorbeikommenden Leute, wie sie sich ihre Nachbarschaft wünschen. Auch auf Plakaten können sie aufschreiben, welche Umgestaltung sie schön fänden.
Vor allem Grünflächen und Spielplätze werden gewünscht. Deshalb wird der Umweltarchitekt Ziad Abichaker bald eine vertikale Grünfläche in der Nähe des Tunnels anbringen. Pflanzen werden in vertikalen Setzkästen wachsen, die aus recyceltem Material entstanden sind. Das Projekt ist in der engeren Auswahl für einen Preis der „Real Play City Challenge“ bei dem Projekte nominiert werden, die mit spielerischen Formen die Gesellschaft dazu animieren, sich für ihre Nachbarschaft zu interessieren.
Mobilitätsgerechtigkeit im Libanon ist ein langer Weg
„Ich glaube nicht, dass Fahrradfahren die Lösung für die Benzinkrise ist“, sagt Haddad, „aber es ist Teil der Lösung und muss Teil eines vernetzten Verkehrssystems sein.“ Die Umweltingenieurin sieht keine Benzin-, sondern eine Transportkrise. Seit mehr als 50 Jahren habe es keine Investition oder strategische Planungen seitens der Entscheidungsträger gegeben in Bezug auf öffentliche Transportmittel. Sie hätten Züge oder Busse einfach von der Karte gestrichen. Obwohl der öffentliche Sektor unterfinanziert ist, setzt Haddad auf die Zivilgesellschaft, den Wandel voranzubringen.
Sie selbst fährt so oft sie kann Fahrrad. Dadurch habe sie viele kleinere Straßen entdeckt, die sie mit dem Auto nie gesehen hätte. „Wenn ich für öffentlichen Nahverkehr oder Fahrradfahren kämpfe, dann kämpfe ich gegen eine politische Aufteilung an, die uns alle gespalten und unsere Verbindungen untereinander zerstört hat.“ Damit meint Haddad die Teilung der Stadtteile anhand konfessioneller Linien. Insgesamt 18 unterschiedliche Religionsgemeinschaften leben in dem Land. Durch Konflikte und einen Bürgerkrieg (1975 bis 1990) sind ganze Regionen im Land und die Stadtteile in Beirut den unterschiedlichen Religionen zugeordnet.
Deshalb ist ein wichtiger Teil ihrer Arbeit Gespräche mit den Kommunen. Welchen Handlungsspielraum der Initiativen sieht sie ohne öffentliche Mittel und Hilfe der staatlichen Behörden? „Der Libanon bekommt viel Geld von außerhalb“, erzählt Haddad. „Wir haben aber eine inkompetente politische Klasse, die dieses Geld verschwendet hat. Deshalb müssen wir sicherstellen, dass das Geld nicht gestohlen wird, sondern zum Beispiel die Weltbank Druck macht, dass es tatsächlich in Infrastrukturprojekte fließt.“
Sexismus in der Verwaltung
Nach vielen Treffen mit der Stadtverwaltung konnten sie sich darauf einigen, dass „The Chain Effekt“ in zuvor abgemachten Zonen innerhalb Beiruts an Fahrradwegen arbeiten darf – jedoch auf eigene Kosten. „Wir haben versucht, den Gouverneur zu überzeugen: Die Menschen brauchen Alternativen in der Krise, aber es gibt keine Infrastruktur, dafür viele Projekte in den Schubladen der Stadtverwaltung. Wir haben vorgeschlagen, die existierenden Vorschläge der Ingenieur*innen zu nutzen, um sie kostengünstiger zu machen, damit wir sie endlich umsetzen können.“
Letztendlich unterschrieb die Stadtverwaltung eine gemeinsame Absichtserklärung zur Zusammenarbeit. Dabei merkte Haddad besonders, dass ihr aus der Stadtverwaltung Frauenfeindlichkeit entgegenschlug. „Als Frau wurde ich bei diesen Treffen nicht respektiert. Obwohl ich die Präsidentin der Organisation bin, sprachen sie lieber meinen Kollegen an. Und als ich die Vereinbarung unterzeichnete, fragte er mich, warum ich unterschreibe und nicht mein Kollege.“ Die Beharrlichkeit und Ausdauer Haddads ist bemerkenswert. Ihrer Meinung nach liefere die Stadtverwaltung keinerlei Ideen und keine Finanzierung. Sie hofft darauf, dass die Verwaltung ihren Teil der Vereinbarung einhält und die Straßen absperrt, damit sie die Fahrradwege gestalten können. Denn nur dadurch können sie endlich das bislang größte Projekt – offizielle Radwege – angehen.
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