Erst Brüssel, dann Straßburg – im Auftrag der EU ist Sylvie Brunet immer auf Achse. Familienleben und kommunalpolitische Projekte finden dagegen an der Mittelmeerküste Frankreichs statt. Ihre Agenda ist taff, doch die Ziele klar: faire Arbeitsbedingungen und mehr Rechte für Frauen.
Von Giorgia Grimaldi, Marseille
Nicht etwa in einem prachtvollen Altbau oder einem hochmodernen Bürokomplex hat die Abgeordnete Sylvie Brunet ihre Arbeitsräume, sondern in einem gewöhnlichen Coworking Space mitten auf der quirligen Rue de la République im Zentrum Marseilles. Hier tummelt sich der Querschnitt der Gesellschaft: Schulkinder, Menschen auf dem Weg zur Arbeit, Straßenmusikant*innen, Obdachlose und Demonstrierende, die hier regelmäßig entlangziehen. Alles, was sich auf der Straße abspielt, sieht und hört man gut im Büro der Politikerin, doch das stört sie nicht.
Brunet mag das „authentische Marseille“, das sie bestens kennt. Als Teenagerin zog die heute 64-Jährige mit ihrer Familie aus dem schicken Pariser Vorort Versailles in die Mittelmeermetropole und fühlt sich seitdem im Süden Frankreichs zu Hause. Doch viel Zeit verbringt Sylvie Brunet hier nicht. Als stellvertretende Vorsitzende der zentristisch-liberalen Fraktion „Renew Europe“, Mitglied im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten sowie im Ausschuss für die Rechte der Frauen und Gleichstellung der Geschlechter hat Brunet viel zu tun.
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Zwischen EU-Politik und Wahlheimat
Jeden Montag sitzt die Abgeordnete für etwa sechs Stunden im Zug Richtung Brüssel, wo Fachausschüsse und Fraktionssitzungen auf sie warten. Im Laufe der Woche geht es nach Straßburg, um an Sitzungen und Abstimmungen im „hémicycle“, dem halbkreisförmigen Plenarsaal, teilzunehmen. Jeder ihrer Schreibtische ist laut Brunet bedeckt mit etlichen Papieren – auch der in Marseille. Um diesen Stapel kümmert sie sich aber erst am Freitag, wenn sie nachmittags wieder in der Stadt ist. Bevor Brunet am Wochenende Zeit mit Familie und Freunden verbringt, steht Kommunalpolitik auf der To-do-Liste.
Als Stadträtin unterstützt sie lokale Projekte wie „Women Coders“, ein Programm, das Frauen den Einstieg in digitale – oft von Männern – dominierte Berufe erleichtern soll. Auf der Einführungsveranstaltung im vergangenen Oktober zeigt sich eine Frau Anfang 20 begeistert über Brunets Besuch: „Es ist toll, dass sich eine Politikerin des Europäischen Parlaments Zeit nimmt, sich für uns einsetzt und nicht von oben herab auf unsere Probleme schaut, sondern zuhört.“
Direkter Kontakt zu den Bürger*innen und potenziellen Wähler*innen ist der Politikerin wichtig. So organisiert sie auch Mutter-Kind-Tage im Brüsseler Parlamentsgebäude oder besuchte zuletzt persönlich das neu eröffnete Frauenhaus in Marseille. Ein genauer Blick auf ihre Vita zeigt deutlich: Die Themen Frauenrechte, Arbeit und Chancengleichheit haben die 64-Jährige schon immer bewegt.
Feministisches Vorbild in der Kindheit
Dabei war eine politische Karriere zunächst nicht geplant. Sylvie Brunet studierte Jura und spezialisierte sich auf Internationales Recht. „Gleichberechtigung und Chancengleichheit lagen mir immer am Herzen, auch damals schon.“ Einen richtigen „Klick-Moment” habe es nicht gegeben, wohl aber eine Schlüsselfigur. Demnach wurde sie von ihrer Großmutter aufgezogen, die sehr feministisch war und – Zitat – „ein richtiges Phänomen für ihre Zeit“.
Brunet erzählt, dass ihre Großmutter als erste Frau das Zeugnis „Certificat d’Études Primaires” erhalten haben soll, das in Frankreich bis 1936 unter anderem den Abschluss der elementaren Grundschulbildung zwischen dem 11. und 13. Lebensjahr bescheinigte. „Meine Oma schrieb außergewöhnlich gut und las viel. Als Frau einer Arbeiterfamilie hatte sie damals aber kaum Möglichkeiten, weitere akademische Ziele zu verfolgen. Im Alter von 14 Jahren fing sie an zu arbeiten und unterstützte die Familie finanziell.“ Deshalb seien Themen, die Brunet schon immer bewegt haben: Frauenrechte und der Kampf gegen Ungerechtigkeit.
Doch anstatt wie zunächst geplant als Jugendrichterin Karriere zu machen, entscheidet sich Sylvie Brunet für die Privatwirtschaft, wird Personalerin und klettert über zwei Jahrzehnte lang die Karriereleiter in den Human-Resources-Abteilungen großer industrieller Dienstleister hoch. Das sei ein sehr wichtiger Abschnitt in ihrem Leben gewesen, unterstreicht sie in der Rückschau, „aber auch kein leichter Job.“ Kündigungen, Einsparungen, Burnout-Syndrom bei den Mitarbeitenden, man habe ziemlich schnell mit den „unschönen Sachen” zu tun. Doch der Ansporn, als Personalchefin strukturelle Probleme zu erkennen und zu lösen, überwiegt.
„Politik ist kein Beruf”
Kommunalpolitisch engagiert sie sich bereits ab 1995, doch so richtig etwas bewegen kann die damals Mitte 30-Jährige noch nicht. Es habe an Unterstützung und Aufmerksamkeit „für ihre Sache“ gefehlt. Also beginnt sie in größeren Dimensionen zu denken und beschäftigt sich ab 2008, mittlerweile verheiratet und Mutter zweier Kinder, erstmals mit nationaler Politik. Sie gibt ihren Job auf, arbeitet stattdessen in Teilzeit als Hochschuldozentin und nimmt eine weitere halbe Stelle als Beraterin im Nationalen Rat für Wirtschaft, Soziales und Umwelt „Conseil économique, social et environnemental“ in Paris an, der eine beratende Funktion für Gesetzgebungsverfahren erfüllt.
Hier wird Sylvie Brunet Vorsitzende der Sektion Arbeit und Beschäftigung und Mitglied der Delegation für Frauenrechte. Sie beschäftigt sich unter anderem mit der Verbesserung des Systems der Kurzarbeit, aber auch mit psychischer Belastung am Arbeitsplatz. Dass Brunet „nur“ in Teilzeit politisch arbeitet, ist volle Absicht: „Politik ist kein Beruf“, erklärt sie. „Viele sagen, Politik sei ein Vollzeitjob. Das entspricht allerdings nicht meiner Meinung. Wir repräsentieren die Gesellschaft. Und um das zu tun, muss man realitätsnah leben, einen Job haben, um die Herausforderungen und Probleme des Alltags zu kennen und zu verstehen. Das echte Leben eben.”
Einsatz für mehr Lohntransparenz
2015 tritt Sylvie Brunet der zentristischen Partei „Mouvement Démocrate” bei und wagt den Schritt in die internationale Politik, als im Jahr 2019 die Europawahlen anstehen. Sie kandidiert und wird – unterstützt sowohl von ihrer eigenen Partei als auch von „La République en Marche“ (gegründet 2016 von Emmanuel Macron) – für einen Platz in der Parteien-Verbindung „Renaissance” nominiert. Die bekommt mit 22,4 Prozent die meisten Stimmen. Somit zieht Sylvie Brunet direkt ins Europäische Parlament ein. Mit ihren Parteikolleg*innen tritt sie anschließend der neu gegründeten Fraktion „Renew Europe” bei.
Brunet hat seither an vielen Projekten mitgewirkt, doch rückblickend erklärt sie, dass ihre umfangreichste Arbeim im Europäischen Parlament ein Vorschlag zur Lohntransparenz zwischen Männern und Frauen gewesen sei. Ein aktuelles Thema, denn erst im März 2023 nahmen die Abgeordneten mit 427 Stimmen die von Brunet und ihren Kolleg*innen erarbeiteten neuen Richtlinien für mehr Lohntransparenz an.
Demnach müssen künftig Vergütung, Arbeitsbewertung und berufliche Einstufung auf geschlechtsneutralen Kriterien beruhen. Außerdem dürfen Stellenausschreibungen und Berufsbezeichnungen keine Rückschlüsse auf das Geschlecht zulassen und Einstellungsverfahren müssen diskriminierungsfrei gestaltet sein, beispielsweise indem erstmals nicht-binäre Menschen bei Formulierungen berücksichtigt werden. Ebenfalls neu: Bei Verstoß gegen diese Regeln können Arbeitnehmer*innen klagen und eine Entschädigung fordern.
Leben und arbeiten mit Krebs
Das erste Mandat Brunets neigt sich nun langsam dem Ende zu, denn 2024 stehen die nächsten Wahlen an. Die Arbeit als Abgeordnete im Europäischen Parlament bringe einen „permanenten kolossalen Druck“ mit sich, erfülle sie aber auch mit Stolz und Begeisterung, sagt sie. Ob sie wieder kandidieren wird, hängt trotz der beruflichen Erfolge von anderen Faktoren ab: Sylvie Brunet kämpft gegen Lymphdrüsenkrebs und befindet sich aktuell in ihrer zweiten chemotherapeutischen Behandlung. Es gehe ihr es den Umständen entsprechend gerade gut, sagt die Parlamentarierin, doch der Umgang mit ihrer Erkrankung stößt ihr auf.
„Über Krebs oder Krankheiten allgemein zu sprechen, vor allem auf der Arbeit, ist ein enormes Tabu. Gerade in der Politik. Das muss sich ändern.” Brunet erzählt von einem Vorfall mit einer Journalistin der Tageszeitung „Le Parisien“, die negativ über ihre Abwesenheit bei einer Sitzung berichtete und daraus in ihrem Artikel schlussfolgerte, dass Brunet und Abgeordnete im Allgemeinen ihrer Pflicht nicht ausreichend nachkämen. Ein großes Ärgernis für sie. „Ich habe ihr daraufhin persönlich geschrieben und über meine Krankheit gesprochen, um darüber aufzuklären.“
Und sie sei nicht die Einzige mit schwerer Erkrankung in ihrem beruflichen Umfeld, sprechen würde darüber aber niemand – aus Angst vor Spekulationen und Verurteilung. Das kann sie verstehen. „Chemo am Vormittag, Sitzung am Nachmittag. Und dann auch noch alles auf Englisch. Das ist wirklich nicht einfach, aber: Arbeiten und Routine ist auch Teil des Heilungsprozesses.“ Und deswegen will Brunet ihre Erkrankung nicht verstecken. Sie geht damit an die Öffentlichkeit und setzt sich für stärkere Prävention und mehr Investitionen in die Forschung ein, zum Beispiel mit der Association of European Cancer League.
„Ich bin eine von vielen Franzosen und Europäern, die an Krebs erkrankt sind. Und wir fangen gerade erst an, dieses Thema in der Arbeitswelt zu berücksichtigen.“ Sie zitiert eine Studie des Netzwerks „Working with Cancer“, laut der die Hälfte der Französinnen und Franzosen in ihrem Leben an einer Krebsart erkrankt. „Und es ist wichtig, das zu thematisieren“, meint die 64-Jährige. Ihr persönlicher Kampf gegen die Krankheit solle auch anderen helfen und den Diskurs darüber verändern.