Bei Ebbe sinkt der Wasserstand am Strand von Okoshiki Kaigan im Süden Japans um zwei bis drei Meter ab. Dann enthüllt der Meeresboden eigentümliche Wellen, so als habe jemand mit einem überdimensionierten Rechen Muster in den Sand gezogen. Besonders wenn die Sonne tief steht, lockt das Naturschauspiel Touristen an. Viele sind es jedoch nicht. Die Inselgruppe Amakusa ist vergleichsweise abgelegen und sichtlich ärmlich.
Von Sonja Blaschke, Uto
Die Menschen vor Ort leben von den wenigen Touristen, und vor allem von dem, was die Natur hergibt. Dabei sind sie kreativ. Anstatt wie die Reisenden zum Fotoapparat greifen Ortsansässige, sobald der Wasserstand sinkt, zu Eimern und Spaten – so wie eine kleingewachsene Frau Mitte 60. Ihr Gesicht ist unter einer weißen Haube, die die Sonnenstrahlen abhalten soll, kaum zu sehen. Ihre wettergegerbte Haut verrät, dass sie in ihrem Leben viel Zeit draußen verbracht hat.
Mit den Füßen in Gummistiefeln, stapft sie gezielt über die flache Strandebene. Immer wieder weichen matschbraune kleine Krebse mit nervösen Seitwärtsbewegungen ihren kräftigen Schritten aus. Die Frau kümmert sich nicht um sie, sie sucht nach etwas Anderem. Immer wieder setzt sie kräftig den mitgebrachten Spaten an und gräbt ein Stück Sand aus. Dann bückt sie sich, zieht etwas aus dem nassen Sand und gibt es in einen kleinen Eimer, den sie sich an die Hüfte geschnallt hat.
„Das sind Würmer“, erklärt sie. „Diese geben Köder für Angler ab.“ Für ein Kilogramm bekomme sie 6.000 Yen, umgerechnet 50 Euro. Dafür müsse sie etwa 1.000 Würmer sammeln. Mit geübtem Blick sucht sie nach kleinen Löchern im Sand. „Wenn man die sieht, weiß man, dass darunter ein Tier ist“, sagt sie. An jenem Tag hat sie noch einen besonderen Fund gemacht, eine essbare Muschel, in hübschen Hellbrauntönen. „Möchten Sie sie?“, fragt sie, und streckt die Hand mit der Muschel aus.
Etwa hundert Meter weiter sieht man einen Mann mit dem Spaten den Strand umstechen. Die Frau folgt dem Blick. „Das ist mein Mann“, sagt sie. „Gehen Sie den auch mal fotografieren.“ Sie ist sehr freundlich, aber hat es offenbar eilig. „In drei bis vier Stunden kommt das Wasser zurück“, erklärt sie knapp. Nach einem schnellen Foto lässt sie die neugierig Fragende stehen und stapft weiter über den Strand.