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„Auch die Frauen waren Opfer“
75 Jahre nach den politischen Morden in Taiwan

23. Februar 2022 | Von Carina Rother
Shen Hsiu-hua hat mit ihrem Buch die Geschichten von Witwen des „228“-Massakers nachgezeichnet, das sich am 28. Februar 2022 zum 75. Mal jährt. Fotos: Carina Rother

Die Diktatur in Taiwan begann mit einem Massaker. Jahrzehntelang mussten Familien das erlebte Leid verschweigen. Doch jetzt will die junge Demokratie die politischen Verbrechen der Vergangenheit aufarbeiten. Viele Zeitzeug*innen leben zwar nicht mehr, aber ihre Geschichten hat die Soziologieprofessorin Shen Hsiu-hua in ihrem Buch „Das 228 der Frauen“ dokumentiert.

Von Carina Rother, Taipei

„Ich habe kein einziges Mal mit meinen Kindern über die Sache mit ihrem Vater gesprochen. Es gibt nichts zu sagen, das bringt ihn ja auch nicht zurück. Ich sage meinen Kindern immer, sie sollen sich nirgends einmischen und sich nicht um Politik kümmern. Das ist gefährlich, sehr gefährlich!“ (Guo Yi-chin, „Das 228 der Frauen“, S. 71)

Guo Yi-chin* war 88 Jahre alt, als 1995 eine junge Aktivistin an ihre Tür in Tainan, Südtaiwan, klopfte. Die junge Frau war Shen Hsiu-hua, heute Soziologieprofessorin an Taiwans renommierter Tsing Hua Universität, Forschungsgebiet Gender und Migration. Damals stand sie kurz vor dem Antritt ihrer Promotion. Erst durch einen Rechercheauftrag für eine politische Zeitung war sie auf das sogenannte „228“-Massaker vom 28. Februar 1947 aufmerksam geworden: „Als ich in der Schule war, wusste ich überhaupt nichts von 228.“

Bis 1987 herrschte in Taiwan das Kriegsrecht. Politische Opposition war lebensgefährlich, Kritik an der Einparteienregierung auch. Als Shen die Lebensgeschichten von Guo Yi-chin und anderen Witwen des 228-Massakers aufzeichnet, befindet sich Taiwans Demokratisierung noch in den Kinderschuhen. Die ersten freien Präsidialwahlen sollten ein Jahr später stattfinden. Über die politischen Verbrechen der Diktaturzeit zu sprechen war bis dato unmöglich.

Shen erinnert sich an das Interview mit einer 90-Jährigen, deren Mann 1947 getötet worden war: „Als sie mich sah, wurde sie sehr nervös. Sie fragte mich die ganze Zeit: Heute kommst du uns besuchen. Wird morgen die Polizei zu uns kommen?“ Jahrelang hatte die Familie Überwachung und nächtliche Kontrollbesuche durch die Polizei ertragen müssen. Das Trauma saß tief.

„1947 waren die Geschlechterrollen so strikt verteilt, dass die Frauen oft nicht wussten, was ihre Männer außerhalb des Hauses machten. Sie wussten nur, dass ihre Ehemänner verschwunden und umgebracht worden waren. Trauma, Terror und Angst war auch nach 40, 50 Jahren noch weit verbreitet“, erzählt Shen. Erst mit der Demokratisierung konnte die Aufarbeitung beginnen. Bis dahin waren Belege verschwunden, Zeug*innen verstorben – heute kann niemand mehr beweisen, ob die politischen Morde in den Wochen nach dem 28. Februar tausende oder zehntausende Opfer forderten.

50 Jahre später begann die Aufarbeitung

Aus Shens Rechercheauftrag wurde ein Buchprojekt; über Mundpropaganda fand sie 1992 die ersten Hinterbliebenen, die über ihre Erlebnisse sprechen wollten. Die öffentliche Debatte konzentrierte sich damals auf die ermordeten Männer: Was hatten sie getan? Wie waren sie gestorben? Während die Soziologin ihr erstes Buch über 228-Erinnerungen zusammenstellte, ließ sie eine Frage nicht mehr los: „Und was war mit den Frauen?“ Daraus wurde ihre zweite Sammlung biographischer Erzählungen von zwölf Witwen, die sie 1997 unter dem Titel „Das 228 der Frauen. Geschichten politischer Witwen“ veröffentlichte.

Holzschnitt „Horror der Kontrolle“ von Huang Rong-Can aus dem Jahr 1947.

Das chinesischsprachige Werk wurde 2020 neu aufgelegt. Ein breites Medienecho blieb aus, obwohl die Aufarbeitungskampagne der Regierung gerade in vollem Gange war. Seit 2016 arbeitete eine Regierungskommission an der Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit. Seitdem sind Schuldsprüche posthum revidiert worden und die Entschädigungssumme für Hinterbliebene politisch Ermordeter wurde auf umgerechnet 380.000 Euro angehoben. Shen Hsiu-huas Interviewpartnerinnen haben das nicht mehr erlebt.  

Das 228-Massaker aus Sicht der Frauen

Eine von ihnen war die 1907 geborene Guo Yi-chin, die aus gutem Hause stammte. Ihre Großeltern waren aus China nach Taiwan emigriert, als die Insel noch zum chinesischen Kaiserreich gehörte. Ihr Vater arbeitet als lokaler Beamter unter der japanischen Kolonialherrschaft (1895 – 1945). Guo Yi-chin besucht eine japanische Schule und unterrichtet später zwei Jahre lang als Lehrerin, bevor die Eltern eine Ehe mit einem gleichaltrigen Stadtrat arrangieren. Sie erlebt sie als glücklich.

Mit der Heirat geht sie in die Familie ihres Mannes über, ist für die Versorgung der Schwiegereltern und der Kinder zuständig. Ihre Sphäre ist das Haus; das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Übergabe Taiwans an die Republik China ereignen sich „draußen“. Das neue Regime aus chinesischen Landsleuten weckt in Taiwan 1945 die Hoffnung auf mehr politische Mitbestimmung. Doch bald zeichnet sich ab: Die chinesische Regierung verachtet die Inselbevölkerung als Kollaborateur*innen des Kriegsgegners Japan.

Chinas Präsident Chiang Kai-shek setzt eine korrupte Verwaltung ein. Taiwans moderne Infrastruktur, Rohstoffe und Nahrungsmittelreserven verscherbelt er, um seinen Bürgerkrieg gegen Mao zu finanzieren. In kürzester Zeit ächzt die ehemalige japanische Musterkolonie unter der Last von Versorgungsengpässen, Inflation und wachsender Armut. Gebildete taiwanische Männer tun ihren Unmut in Zeitungen und auf Versammlungen kund. 1947 ist Guo Yi-chin 39 Jahre alt und mit ihrem vierten Kind schwanger. Über die Ereignisse „draußen“ weiß sie nur, dass es Unruhen gab und sich ihr Mann einige Tage lang verstecken musste.

Eine Wand in einem Park in Taipei erinnert an die Opfer von 228.

Im Radio wird die Bevölkerung aufgerufen, wie gewohnt zur Arbeit zu gehen. Das Militär würde für die Sicherheit garantieren. Blanker Hohn angesichts dessen, was sich gerade im Land ereignet: Am 27. Februar eskaliert eine Polizeikontrolle auf einem Taipeier Schwarzmarkt. Zwei Kontrolleure schlagen eine alte Frau nieder, die Zigaretten ohne Genehmigung verkauft. Umstehende begehren spontan auf, ein Mann wird angeschossen und stirbt. Am Tag darauf kommt es zu Protesten in der Stadt; Soldaten schießen in die Menge. Es folgen tagelange Unruhen in Taipei.

Bis zum 8. März sind die Aufstände gegen die korrupte Besatzung auf das ganze Land übergeschwappt. An Polizei und Armee ergeht der Befehl zur Niederschlagung. China schickt Truppen zur Verstärkung. Willkürliche Exekutionen auf der Straße vermischen sich mit gezielten „Säuberungen“ angeblicher Anführer*innen des Aufstands. Systemkritische Eliten werden nachts aus ihren Häusern gezerrt und verschwinden. Guo Yi-chins Mann ist eines der Opfer. Am Tag nach seiner Festnahme wird er als „Verbrecherführer“ öffentlich hingerichtet.

Fünf Tage später erhält sie ein nachträgliches Urteil: Ihr Mann wurde für unschuldig befunden. Über den Schock legt sich die Ohnmacht. In den Jahren danach bringt die junge Witwe ihre Kinder mit vielen Entbehrungen über die Runden, höhere Bildung bleibt ihnen aber verwehrt. Mit Hilfe von Verwandten baut sie eine Holzschlappen-Produktion auf. Das Geschäft läuft schlecht. Sie sagt, ihr habe als Frau wohl die Autorität gefehlt. Ihren Lebensabend verbringt sie bei der jüngsten Tochter.

Ohne Männer verloren Frauen ihren Status

„Der Status von Frauen in der Familie und außerhalb war stark abhängig von ihren Männern. Der Tod deines Mannes bedeutete quasi, dass du deine Stellung innerhalb der Familie des Mannes und in der Welt draußen verloren hattest. Diese Abwärtsbewegung erfuhren nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder.“ Shen Hsiu-hua hat in ihrem Buch Schicksale zusammengetragen, die die Lebensrealität der Witwen im Taiwan der Nachkriegszeit eindrücklich zeigen.

Die Frau eines ungelernten Bahnarbeiters etwa muss nach seinem Tod zwei Kinder und einen bettlägerigen Schwiegervater ernähren. Der Familie fehlt es am Nötigsten. So heißt es in Hsiu-huas Buch auf Seite 154: „Manchmal sagte ich zu meinen Kindern, ich gehe meine Eltern besuchen und frage sie, ob sie mir ein wenig Reis für Reissuppe geben können. Sonst müssen wir wieder Süßkartoffeln essen. Aber sobald ich bei ihnen ankam, traute ich mich nicht mehr, um Reis zu bitten. Meine Eltern hatten einen Haufen Kinder und lebten nur vom Feld meines Vaters. Ihr Leben war auch hart, und ich traute mich nicht, von ihnen Reis zu erbitten.“

Statue in Frauengestalt steht heute vor 228-Museum in Taipei.

Eine andere Zeitzeugin war mit sieben Jahren als Ziehtochter in eine reiche Arztfamilie gegeben worden – gängige Praxis, wenn eine Familie nicht alle Kinder ernähren konnte. Mit 18 heiratet sie den vierten Sohn des Hauses. Ein Jahr später werden er, sein Vater und sein Bruder ermordet. Die junge Frau – gerade Mutter geworden ­­– versorgt mit ihrer Feldarbeit jahrelang ihre Zieh- und Schwiegermutter, ohne eigenes Geld oder Besitz.

Schließlich vermittelt ein Bekannter ihr einen neuen Ehemann: „Nachdem wir geheiratet hatten, ist er bei uns eingezogen. Meine [Zieh-]Mutter war sehr streng. Er hatte keine Freiheiten und kein eigenes Geld. Wir haben uns nicht vertragen und nach einem Jahr, als unsere Tochter auf die Welt kam, ist er abgehauen. Meine Ziehmutter gab mir zwei Optionen: Entweder lasse ich mich scheiden, oder ich gehe mit ihm. Aber wenn ich mit ihm gehe, kann ich meinen Sohn nicht mitnehmen.“

An das Leid und die Stärke der Frauen erinnern

Ihre Erinnerungen, sagt Shen, sind heute Teil des Selbstverständnisses von Taiwans hart erkämpfter Demokratie: „Weil das autoritäre Regime unseren Menschen, unserem Land, unserer Gesellschaft so viel angetan hat. Demokratie ist so wichtig und so schwierig. Wir haben gelitten und so viele Leben geopfert.“ Sie will klarmachen, dass Vergangenheitsaufarbeitung nicht bei den Getöteten und Inhaftierten aufhören darf.“ Ihrer Auffassung nach seien Witwen Opfer und sollten im Zentrum des Narrativs stehen. Es solle nicht nur um die gehen, die gestorben seien, sondern auch um die Menschen, die gelitten hätten. Dabei stünde nicht nur das Leid im Fokus, sondern auch die Stärke dieser Frauen.

Seit den frühen 2000er Jahren setzen sich Interessenverbände für eine systematische Aufarbeitung der Diktaturzeit ein. Der Geschichtsunterricht wurde reformiert; Kinder studieren heute das 228-Massaker und das darauffolgende Regime des „Weißen Terrors“ in der Schule. Die staatliche Aufarbeitungskommission treibt die Errichtung von Gedenkstätten und die Auswertung historischer Quellen voran. Die Aufklärung kommt zwar zu spät, um alle Fragen zu beantworten. Aber Shen Hsiu-hua hat mit ihrem „228 der Frauen“ ein Dokument geschaffen, dass die Erfahrungen überlebender Frauen eindrücklich konserviert.

Taiwans feministische Awakening Stiftung rezensiert das Buch so: „Es erinnert uns daran, dass 228 nicht auf den 28. Februar 1947 beschränkt ist. Und es lässt uns erkennen, dass politische Gewalt nicht nur Leben ausgelöscht und vergangenes Leid verursacht hat, sondern die ganze Gesellschaft betrifft, und unsere gemeinsame Zukunft.“

* Alle Namen stehen entsprechend chinesischer Schreibweise in der Reihenfolge „Nachname Vorname“.

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Von Carina Rother, Taipei

Carina Rother ist freie Journalistin und Übersetzerin. Wenn sie nicht gerade für deutsche Radiosender schreibt, arbeitet sie an eigenen Dokumentarfilmprojekten und beschäftigt sich mit Erinnerungspolitik, Demokratiegeschichte, Arbeitsmigration, globalen Lieferketten und Militärstrategie in Asien. Die gebürtige Regensburgerin hat Taiwan 2016 zu ihrer Wahlheimat gemacht, nach einem Studium der Sinologie und Geschlechterforschung.

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