Die Kölnerin Bettina Bräunl und die Syrerin Ralda Jamous wären sich im wahren Leben wohl nie begegnet. Nun sprechen sie jede Woche miteinander – dank eines Startups, das geflüchtete Syrer als Arabischlehrer für Menschen in aller Welt einstellt.
Von Mareike Enghusen, Tel Aviv
Bettina Bräunl kennt Ralda Jamous’ Lebensgeschichte, sie weiß, was ihre Töchter machen und wie es ihrem Mann geht. Ralda Jamous weiß, wie Bettina Bräunl ihren Tag verbracht hat, in welcher Stadt sie gerade arbeitet und wohin sie als nächstes fliegt. Egal ob Bettina Bräunl in Rom im Büro sitzt oder in Tunis auf dem Hotelbett liegt: Die beiden sprechen jede Woche miteinander, für eine Stunde, manchmal mehr. Sie kennen einander gut, dabei haben sie sich noch nie getroffen und führen radikal verschiedene Leben.
Die 46-jährige Kölnerin Bettina Bräunl reist als persönliche Trainerin um die Welt, berät Führungskräfte und bereitet Entwicklungshelfer auf Einsätze in Krisengebieten vor. Die 50-jährige Syrerin Ralda Jamous musste vor drei Jahren aus ihrer Heimatstadt Aleppo fliehen, kam erst ein Jahr im Libanon unter und lebt heute in Paris. Verbunden hat die beiden ein Startup mit dem Namen Natakallam: Arabisch für „Wir werden sprechen”.
Millionen von Syrer mussten wie Ralda Jamous vor dem Krieg aus ihrer Heimat fliehen, etliche von ihnen leben in wirtschaftlich prekären Umständen: In manchen Ländern wie Deutschland müssen sie zunächst die Sprache lernen, um eine Anstellung zu finden, in anderen bekommen sie keine Arbeitserlaubnis. Zugleich wächst in Europa und den USA seit Jahren die Nachfrage für Arabischunterricht.
Natakallam hat beide Bedürfnisse kombiniert: Das Startup stellt geflüchtete Syrer als Sprachlehrer ein und verbindet sie mit Arabischlernenden rund um die Welt. Unterrichtet wird per Skype, eine Stunde kostet 15 US-Dollar, davon gehen fünf Dollar an das Startup, den Rest erhalten die Syrer – ein Stundenlohn, der oft höher ist als der, den sie in ihren Gastländern erhalten könnten. Für viele von ihnen ist der Unterricht die einzige Einnahmequelle überhaupt.
Die Idee dazu stammt von der Amerikanerin Aline Sara, die selbst libanesische Wurzeln hat. Nach ihrem Masterabschluss an der Columbia University Anfang 2016 suchte sie nach Wegen, ihr Arabisch zu verbessern. Doch die Angebote in New York City erschienen ihr zu teuer und zu wenig flexibel. Zugleich verfolgte sie in den Nachrichten die Katastrophe in Syrien, die Millionen von Flüchtlingen über die Landesgrenzen trieb. „Die Krise nahm mich sehr mit”, sagt sie, „und ich konnte es nicht fassen, dass die Flüchtlinge im Libanon nicht arbeiten dürfen. Ich dachte mir: Ich wünschte, ich könnte dort sein, mit diesen Syrern Arabisch üben und sie dafür bezahlen.”
Die Idee setzte sich in ihrem Hinterkopf fest. Als die Universität einen Startup-Wettbewerb ausrief, reichte Aline Sara ihre Idee ein – gemeinsam mit zwei Kommilitonen, deren Familien ebenfalls aus dem Nahen Osten stammen. Dass sie immerhin in die zweite Runde kamen, machte ihnen Mut: Sie meldeten sich bei einem Wettbewerb der Weltbank an und gelangten in die Finalrunde. Inzwischen hatten sie eine Online-Plattform erstellt, die ersten Lehrer engagiert und eine Handvoll Schüler angeworben. Sie begannen, in den sozialen Medien für das Projekt zu werben.
Einen Monat lang geschah wenig, dann schossen die Klickzahlen plötzlich nach oben: Die Webseite verzeichnete 5.000 Zugriffe in einer Woche. Inzwischen beschäftigt Natakallam rund 30 Syrer, die im Libanon, in der Türkei, in Frankreich, Deutschland, Armenien und Brasilien leben. 700 Schüler aus aller Welt haben den Dienst bereits genutzt – und es werden stetig mehr. „Trotzdem bemühen wir uns, eine persönliche Atmosphäre zu erhalten”, sagt Aline Sara. „Wir verstehen uns als humanitäres Projekt und sind nicht zu vergleichen mit all den Tech-Startups, die auf schnelles Wachstum aus sind.” Neben ihr und dem Co-Gründer Reza Rahnema besteht das Team aus drei weiteren Mitarbeitern. Bisher arbeiten alle auf ehrenamtlicher Basis, die Einnahmen fließen größtenteils in die Wartung und Entwicklung der Online-Plattform.
Der offensichtlichste Vorteil des Projekts für beide Seiten ist ökonomischer Natur: Die Lehrer erwirtschaften ein kleines Einkommen, die Schüler erhalten günstige Privatstunden. Doch zugleich bringt das Projekt Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten ins Gespräch, die einander sonst wohl kaum begegnet wären. Eben Menschen wie Ralda Jamous und Bettina Bräunl.
Schnell Sprache lernen, um einen Job zu finden
Ralda Jamous’ Mann unterhielt in Aleppo eine Textilfabrik. Als die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Rebellen ausbrachen, floh das Paar mit den zwei Töchtern zu Verwandten in den Libanon – „wir dachten, für ein, zwei Monate”. Daraus wurde ein Jahr. Anschließend zogen die vier weiter nach Paris, wo ebenfalls Verwandte leben. „Früher habe ich davon geträumt, einmal in Paris zu leben”, sagt Jamous. „Aber unter diesen Umständen ist es kein Traum mehr.” Sie und ihr Mann mussten ihren gesamten Besitz in Syrien zurücklassen. Nun besuchen die beiden täglich kostenlosen Französischunterricht, um ihre Chance auf eine Anstellung zu erhöhen. Derzeit verdient Ralda Jamous nur mit den Arabischstunden ein wenig Geld.
Bettina Bräunl las von Natakallam in einem Artikel, den eine Freundin ihr mailte. „Ich hatte schon immer ein Faible für die arabische Welt und wollte Arabisch auch studieren, aber davon wurde mir abgeraten: Damals hieß es, das hat für Frauen keinen Sinn”, erzählt sie. Dennoch ließen der Nahe Osten und der Maghreb sie nicht los: Sie leistete Entwicklungshilfe in Ägypten, leitete Gesundheitsprojekte im Tschad und arbeitet heute als Beraterin häufig in Ländern der Region: dieses Jahr unter anderem in Oman, Dubai und Tunesien.
Ihr unsteter Terminkalender erlaubt es ihr nicht, regelmäßige Sprachkurse in Deutschland zu belegen. Seit Mai lässt sie sich deshalb über Skype unterrichten: Mit ihrer Lehrerin kann sie sich von jedem Ort und jeder Zeitzone aus verbinden. „Wir haben von Anfang an viel über persönliche Dinge gesprochen”, sagt sie, „das ist keine klassische Lehrer-Schüler-Beziehung, sondern spielt sich eher auf einer freundschaftlichen Ebene ab.” Dass Schüler und Lehrer sich mit der Zeit anfreunden, sei keine Seltenheit, sagt die Gründerin Aline Sara. Ein Schüler versuche derzeit seinem Lehrer zu helfen, nach Kanada zu ziehen. Eine andere habe ihrer schwangeren Lehrerin ein Geschenk nach Hause geschickt.
„Das Schöne an dem Portal ist, dass ich damit Menschen aus aller Welt kennenlerne”, sagt Ralda Jamous. „Ich habe Schüler aus den USA, aus England, Deutschland, Griechenland, sogar Hongkong. Und jeder hat seine eigene Geschichte. Wir sprechen über alltägliche Dinge, sie erzählen mir, was sie machen und wie es ihren Kindern geht. So entstehen Freundschaften. Selbst innerhalb von Paris braucht man eine Stunde, um jemanden zu besuchen. Aber Natakallam verkürzt die Distanz zwischen den Menschen.”
Für Bettina Bräunl und Ralda Jamous gilt das im wahrsten Sinne des Wortes: Sie werden sich bald zum ersten Mal persönlich gegenübersitzen. Bräunl plant eine Geschäftsreise nach Paris und will dort auch ihre Lehrerin treffen: „Ich habe ihr in einer unserer letzten Sitzungen davon erzählt und wir haben darüber gesprochen, wo wir uns treffen könnten – auf Arabisch natürlich.”
Webseite von Natakallam