Etwa jedes siebte Kind erfährt sexualisierte Gewalt. Die meisten sexuelle Übergriffe finden im nahen Umfeld statt, sagt Agota Lavoyer, die ein Fachbuch zur Prävention sexualisierter Gewalt geschrieben hat. Die Expertin unterstützt und begleitet als ausgebildete Sozialarbeiterin und systemische Beraterin seit vielen Jahren Betroffene und deren Angehörige.
Von Anne Klesse, Hamburg
Zusammenfassung:
Agota Lavoyer, Expertin für die Prävention sexualisierter Gewalt, betont die Wichtigkeit der Prävention innerhalb des nahen Umfelds, da die meisten Übergriffe hier stattfinden. Sie kritisiert die Fokussierung auf „den bösen Unbekannten“ und erklärt, dass wirkliche Prävention bedeutet, Kinder auch vor Übergriffen durch bekannte Personen zu schützen. Sie hebt hervor, dass Aufklärung und das Bewusstsein über Grenzen und deren Überschreitung schon im Kindesalter beginnen sollten, ohne dabei Angst zu schüren. Stattdessen sollen Kinder lernen, ihre eigenen Grenzen zu erkennen und zu verteidigen.
Obwohl sexuelle Übergriffe vor allem aus dem engen Umfeld kommen, konzentriert sich die Angst vieler Eltern bis heute auf den „bösen Unbekannten“: Kinder werden gewarnt, nicht bei Fremden ins Auto zu steigen, tragen Smartwatches mit GPS-Funktion, aus Angst vor Entführung. Dabei sind nur drei Prozent der Täter tatsächlich Fremde. Woher kommt diese verfälschte Wahrnehmung?
Es ist einfacher, vor dem fremden Mann zu warnen, als sich damit zu beschäftigen, dass solche Fälle hauptsächlich in der eigenen Familie, im Bekanntenkreis, in Kita, Schule oder Sportverein passieren. In meinen Kursen höre ich immer wieder, dass Eltern versichern, ihren Kindern in jedem Fall zu glauben. Wenn die beschuldigte Person dann aber der eigene Mann oder Bruder oder der liebe Trainer ist, wird doch gezweifelt. Prävention wird nicht gelingen, wenn wir den Großteil der Fälle sexualisierter Gewalt an Kindern ausklammern, indem wir nur vor ominösen fremden Tätern warnen. Das entspricht einfach nicht der realen Bedrohung. Deshalb habe ich mein Buch geschrieben. Ich möchte den Betroffenen Worte für diese Sprachlosigkeit geben und aufzeigen, dass wir Kinder auch vor Übergriffen im engsten Umfeld schützen können. Das schulden wir den Kindern.
Wo beginnt denn sexualisierte Gewalt?
Sexualisierte Gewalt beginnt dort, wo eine erwachsene Person seine Machtposition ausnutzt, um die eigenen sexuellen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen. Das können sexualisierte Gespräche sein, sexualisierte Berührungen oder auch das gemeinsame Anschauen von pornografischem Material. Sexualisierte Gewalt fängt bei Kindern fast immer mit Grenzverletzungen an. Täter – in 80-90 Prozent der Fälle sind es Männer – gehen geschickt vor, sie sind oft beliebt bei Kindern, sind lieb und nett und tasten sich vorsichtig heran. Deshalb müssen wir dort ansetzen, wenn wir Kinder vor massiveren Übergriffen schützen wollen.
Gibt es Anzeichen, auf die Eltern achten können?
Es gibt keine Anzeichen, die eindeutige Hinweise auf sexualisierte Gewalt sind. Oft versuchen Kinder auch, die Normalität zu wahren und weiter zu funktionieren. Wenn es einem Kind nicht gut geht, fragen Erwachsene meist, ob es gemobbt wird, ob es Streit mit Freunden hatte, oder ob es zu Hause schwierig ist. Aber genauso sollten Erwachsene auch die Option, dass das Kind sexualisierte Gewalt erfährt, im Kopf haben und erfragen. Wenn das Kind bedrückt nach Hause kommt, würden wir es vielleicht fragen, ob es in der Schule Streit gab. Ebenso kann es sein, dass jemand grenzverletzend gegenüber dem Kind war. Auch das können wir unaufgeregt erfragen: Ist dir jemand zu nahe gekommen?
Anzeichen wie etwa körperliche Verletzungen gibt es praktisch nie. Erstens, weil Penetration nur in acht Prozent aller Fälle geschieht und zweitens, weil sogar diese nicht immer nachgewiesen werden kann. Auch dass bestimmte Verhaltensweisen – etwa übersexualisiertes – oder Kinderzeichnungen eindeutig auf sexualisierte Gewalt hindeuten, ist ein Mythos. Ob ein Kind so etwas erlebt hat, finden wir nur heraus, wenn das Kind davon erzählt, und zwar aus freien Stücken. Damit aber ein Kind über Intimes und schlechte Erfahrungen erzählen kann, braucht es einen sicheren Rahmen und muss aufgeklärt sein über sexualisierte Gewalt.
Ab welchem Alter ist Aufklärung über sexualisierte Gewalt sinnvoll und wie stellt man das am besten an?
Das geht, sobald man mit dem Kind reden kann und das Kind einen auch inhaltlich versteht. Eltern können mit ihren Kindern gemeinsam Bücher anschauen. Wir sprechen schließlich schon mit sehr kleinen Kindern ganz selbstverständlich über Gefahren im Straßenverkehr. Genauso können wir im selben Alter über Grenzen, Grenzverletzungen, Körper, Körperlichkeit, Nähe und Distanz reden. Wir vergessen oft, dass das Thema in der Lebenswirklichkeit unserer Kinder ohnehin omnipräsent ist. Körperliche Nähe ist sehr wichtig in der Erziehung und für die Entwicklung. Aber es gibt eben auch Grenzen zu beachten. Eltern sollten sich regelmäßig selbst hinterfragen: Wie gehe ich mit diesen Themen im Alltag um? Beachte ich die Grenzen meines Kindes? Aufklärung kann sehr unaufgeregt in den Alltag integriert werden.
Es geht also nicht darum, mit dem Kind mögliche Gewalt-Szenarien durchzugehen?
Auf keinen Fall. Es geht darum, dem Kind das Gefühl zu vermitteln: Auch du hast deine Grenzen und ich bin dafür zuständig, diese zu schützen und zu thematisieren. Während wir im Straßenverkehr oft mit Angst arbeiten, indem wir unsere Kinder vor den realen Gefahren warnen und sagen, was alles passieren kann, wenn sie nicht aufpassen, ist Angst beim Thema Prävention sexualisierter Gewalt ein schlechter Berater. Ziel ist nicht, dass Kinder Angst gegenüber Erwachsenen in ihrem Umfeld entwickeln. Ziel ist, dass Kinder wissen, was sexualisierte Gewalt ist, dass sie die wichtigsten Fakten und Täterstrategien kennen.
Wie kann das konkret aussehen?
Wir müssen Kindern erklären, was Gewalt ist und dass diese nie okay ist. Meine Kinder wissen beispielsweise, dass eine deutlich ältere oder erwachsene Person sich nicht vor ihnen an der Vulva oder am Penis berühren darf. Zudem müssen Kinder wissen, was schlechte Geheimnisse sind und dass es ein Trick der Täter*innen ist, einem Kind einzureden, dass ihm niemand glauben wird. In der Prävention geht es aber auch um die alltäglichen Grenzverletzungen. Etwa darum, dass wir unsere Kinder nicht dazu drängen, der Großmutter einen Begrüßungskuss zu geben, wenn sie das nicht möchten. Wenn wir ein Kind zwingen, bestimmte Erwachsene zu küssen – welche Botschaft lehren wir ihnen damit? Kinder sollten nie Nähe oder Zärtlichkeiten von anderen erdulden müssen. Gleichzeitig müssen sie wissen, dass sie nie daran schuld sind, wenn andere ihre Grenzen verletzen. Das sind zwei zentrale Botschaften für die Prävention, die wir Erwachsenen unseren Kindern vermitteln müssen.
Mit Worten – aber vermutlich auch, indem wir diese Botschaften vorleben?
Genau. Es ist ebenso wichtig anzusprechen, welche Grenzen wir selbst haben – dass wir beispielsweise allein duschen möchten oder dass wir es nicht mögen, wenn das Kind uns an die Brüste fasst. Wir können auch sagen, dass wir nicht möchten, dass sich unser Kind bei anderen Erwachsenen auf den Schoß setzt, wenn uns nicht wohl dabei ist. Gleichzeitig sollten wir selbst dann auch keine anderen Kinder auf den Schoß nehmen. Es braucht heruntergebrochene Beispiele, mit Hilfe derer jede Familie eigene Haltungen zu den Themen Nähe und Distanz entwickeln kann. Das fällt nicht immer leicht, weil wir in unserer Gesellschaft kaum über Grenzverletzungen sprechen. Das macht es Tätern leider leicht. Es geht bei der Prävention ja auch darum, die Hürden für Täter*innen zu erhöhen, indem ein Bewusstsein geschaffen wird.
Der Familienalltag ist oft hektisch und durchgetaktet. Wann ist ein guter Moment für ein Gespräch über Grenzen?
So ein Gespräch muss nicht lang dauern, Kinder beschäftigen sich ohnehin meist nach ein paar Minuten schon wieder mit etwas anderem. Um gemeinsam individuelle Grenzen zu besprechen, können Fragen ein Anfang sein wie „Welche Berührungen von Erwachsenen findest du bei dir okay, und welche nicht?“ oder „Wurdest du schon einmal gekitzelt und hast es nicht gemocht?“. Anlass kann auch ein Arztbesuch sein, denn das ist eine der wenigen Ausnahmen: Medizinische Untersuchungen sind wichtig und es kann vorkommen, dass ein Arzt oder eine Ärztin im Beisein der Eltern beispielsweise die Hoden des Kindes abtastet. Das sollte im Vornherein erklärt werden. Auch, dass es okay ist, dann die Untersuchung abzulehnen, wenn sich das Kind dabei unwohl fühlt. Themen können immer dann aufgegriffen werden, wenn sie aktuell sind. Wenn ein Kind sich gerade umzieht, kann man die theoretische Frage stellen „Dürfte ich dich jetzt nackt fotografieren?“. Schon ist man mitten im Thema und kann einige Minuten darüber sprechen – und sich dann wieder anderen Dingen zuwenden.
Also lieber nebenbei als geplant?
Lieber fünf Minuten pro Woche, als abends vor dem Schlafengehen ein zweistündiges Gespräch, ja. Prävention sollte etwas Alltägliches sein, damit die Kinder verinnerlichen: Aha, das ist ein Thema, über das spricht man, da darf ich auch sagen, was ich empfinde.
Gerade die von Ihnen schon erwähnte Sprachlosigkeit ist ein großes Problem beim Thema sexualisierte Gewalt. In Ihrem Buch schreiben Sie, 50 Prozent der betroffenen Kinder erzählen niemandem von den Übergriffen. Woher kommt das?
Viele Betroffene sprechen erst viel später darüber, wenn sie erwachsen sind. Gründe sind zum Beispiel, dass Kinder unter großem Geheimhaltungsdruck stehen, solche Handlungen gar nicht als übergriffig erkennen, ihnen die Sprache dafür fehlt und sie die Handlungen nicht benennen können. Viele fühlen sich auch mitschuldig, schämen sich oder haben Angst vor den Konsequenzen. Wenn der Täter oder die Täterin aus dem nahen Umfeld kommt, stecken Kinder immer in einem großen Loyalitätskonflikt, denn sie mögen die Person eigentlich und wollen ihr nicht schaden. Umso wichtiger ist es, deutlich zu machen, dass diese Gründe verständlich sind, es aber wichtig und mutig ist, trotzdem davon zu erzählen.
Was tun, wenn ich einen Verdacht auf sexualisierte Gewalt habe oder mir ein Kind sogar davon erzählt?
Die Reaktion dem Kind gegenüber ist enorm wichtig, vor allem für den erfolgreichen Umgang mit den Folgen des Erlebten. Ruhe bewahren, nichts überstürzen. Dem Kind versichern, dass Sie ihm glauben und dass es keine Schuld hat. Den mutmaßlichen Täter auf keinen Fall konfrontieren, sondern professionelle Hilfe suchen, etwa bei Vereinen der Opferhilfe oder Organisationen, die auf die Beratung von Kindern und Familien bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch spezialisiert sind. Es gibt die „Nummer gegen Kummer“ (116111 für Kinder und Jugendliche, 0800-111 0 550 für Eltern). Erste Ansprechpartner können auch Kinderärztinnen und -ärzte oder Vertrauenslehrkräfte sein. In Deutschland hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf der Website www.hilfe-portal-missbrauch.de Hilfsangebote zusammengestellt.
In vielen Eltern-Köpfen stecken noch Glaubenssätze aus der eigenen Kindheit, beispielsweise, dass junge Menschen insbesondere vor Älteren Respekt haben müssen. Dass die schon wissen, was gut für Kinder ist und Kinder das nicht hinterfragen sollten. Dass aber die Meinung und die Gefühle von Kindern mindestens gleichwertig sind, müssen auch wir Eltern erst einmal verinnerlichen, um diese Botschaft weitergeben zu können, oder?
Was einem selbst als Kind beigebracht wurde, steckt bei den meisten Menschen ganz tief drin und ist schwer zu überschreiben. Ich spüre bei meiner Beratungsarbeit oft Ängste bei den Eltern, die sie an ihre Kinder weitergeben. Und ältere Lehrpersonen fragen mich: Darf man denn heute gar nichts mehr? Ich sage dann immer: Früher wurden die Grenzen von Kindern ignoriert, körperliche Gewalt an der Schule und zuhause war normal. Eltern dachten, sie dürften ihre Kinder ohrfeigen und das ginge niemanden etwas an. Aber: Gewalt an Kindern ist nie in Ordnung! Und Gewalt ist nie Privatsache. Nicht vor 50 oder 20 Jahren und auch heute nicht. Dazu kommt, dass viele der heute 35- bis 50-Jährigen nicht einmal sexuell aufgeklärt wurden. Das fängt schon bei der Benennung der Körperteile an. Viele Frauen finden erst als Erwachsene Namen für ihren Intimbereich.
In einer Umfrage der britischen Krebshilfeorganisation „The Eve Appeal“ von 2016 konnte lediglich die Hälfte der befragten Frauen zwischen 26 und 35 Jahren anhand eines Modells genau lokalisieren, wo sich die Vagina befindet. Fast 40 Prozent benutzten statt Vagina oder Vulva mehr oder weniger alberne Kosenamen für ihre eigenen Geschlechtsteile.
Deshalb ist es wichtig, dass auch Eltern das üben und Geschlechtsteile korrekt benennen. Dazu gehört, sich einzugestehen, dass man in einer anderen Zeit aufgewachsen ist und es jetzt viele neue Erkenntnisse gibt. Zum Beispiel eben, dass das korrekte Benennen des Intimbereichs die Körperwahrnehmung fördert und das Reden über sexualisierte Gewalt erleichtert.
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