Die sogenannten „Jal Saheli“ reparieren Handwasserpumpen und Teiche in Indiens Trockenregion Bundelkhand. Für eine bessere Zukunft haben Frauen die Führung bei der Wasserkonservierung übernommen. Dabei ist eine neue Bewegung entstanden.
Von Natalie Mayroth, Chhatarpur
Es ist ein hellblaues, fließendes Gewand, das ihre Schultern, Hüften und Beine umhüllt. Voller Stolz trägt Punia Devi diese sechs Meter Stoff. Wenn sie das Haus verlässt, streift sie ihn sich leicht über den Kopf. Der Sari in Wasserblau ist ihre Uniform. So erkennt jeder von Weitem, dass sie eine „Jal Saheli“ ist: eine Wasserfrau. Diese Frauenbewegung umfasst Hunderte von Freiwilligen: In einer der trockensten Regionen Indiens versuchen die Frauen, ihre Wasserversorgungsprobleme selbst zu lösen.
Devi lebt in Bundelkhand, wo es besonders an Wasser mangelt. Deshalb ist die Zeit kurz vor dem Sommermonsun, wenn feuchte Luftmassen über den Subkontinent strömen und der üppige Regen ausgetrocknete Landschaften aufblühen lässt, die wichtigste im Jahr für die „Jal Saheli“.
Rechtzeitig müssen Teiche, Stauseen und Dämme regenfest gemacht werden, damit das kostbare Nass möglichst lange erhalten bleibt. Über Aushebungen der Frauen kann Wasser seinen Weg ins Erdreich finden, was aufgrund der steinigen Geografie in Bundelkhand nicht überall möglich ist. In einigen Fällen verhindert der Granit im Untergrund, dass sich Grundwasser auf natürliche Weise zu einem hohen Grad auffüllt.
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Punia Devi weiß, was es bedeuten kann, wenn zu wenig Wasser vorhanden ist: Dann gibt es nur eine Ernte im Jahr, Geld für die Ausbildung ihrer Kinder ist knapp, und die Familie muss ihre Ersparnisse für teure Wasserkäufe zusammenkratzen. Mit organischem Düngemittel aus Eierschalen und einer verbesserten Wasserversorgung konnte sie allerdings die Ernteerträge vergrößern. „Früher hatten wir 200 Kilo Ertrag – daraus sind 700 geworden“, sagt Devi bei einem Besuch in ihrem Dorf Jhiria Jhor.
Damit habe sie genügend Getreide, um es zu verkaufen, und das restliche Geld in die Schulausbildung ihrer Kinder zu investieren. Die Frauen setzen auf einfache und altbewährte Techniken, um Regenwasser zu sammeln. Doch für das Instandsetzen von Teichen und Wasserpumpen ist Kraft und Wissen gefragt. Starke Arme haben Bundelkhands Frauen ohnehin von den Pumpen, mit denen sie jeden Tag Wasser aus den Brunnen ziehen.
Denn: Fließendes Wasser aus dem Hahn ist keine Selbstverständlichkeit. Vielerorts gibt es keine Wasserleitungen – man braucht Handwasserpumpen wie die „India Mark II“, die Wasser aus bis zu 50 Meter Tiefe holen können. In Workshops lernen die Frauen, wie man sie repariert und instand hält. Ohne funktionierende Pumpen müssten sie kilometerweit zur nächsten Wasserquelle laufen.
Über das Wasser singen
„Lass das Regenwasser nicht abfließen, lass es in den Boden sickern. Pflanzt Bäume, sie werden das Wasser zurückhalten“, singt eine junge Frau namens Babita Rajput. Dass sie eine „Jal Saheli“ ist, sieht man ihr nicht auf den ersten Blick an. Sie trägt keinen blauen Schleier, dafür um ihren Hals eine Tattoo-Kette aus schwarzen Plastikringen. Die Haare hat sie zum Pferdeschwanz gebunden.
Aus den Arbeitsanweisungen, die die Frauen verinnerlicht haben, hat die 21-Jährige ein Lied komponiert. Volkslieder haben in Bundelkhand Tradition. Über das Wasser zu singen verbindet die Bäuerin Punia Devi mit der Studentin Babita Rajput, die zwar nur wenige Kilometer entfernt im zentralindischen Distrikt Chhatarpur lebt, aber kaum unterschiedlicher sein könnte. Als „Jal Saheli“ engagieren sich beide im Wasserrat ihrer Dörfer.
Kampf um Wasser, Kampf um Emanzipation
Babita Rajput blickt zufrieden auf die vergangenen Monate zurück. Im Dorf Agrotha haben sie einen neuen Stausee gebaut. Sie wollte schon längst von einem Berghang Regenwasser umleiten, um einen See zu füllen. Doch der Hang fällt unter die Verwaltung des Forstamts, was eine Genehmigung erforderlich macht. Also forderte sie zusammen mit 200 Frauen aus dem Dorf die Erlaubnis, einen 100 Meter langen Graben anzulegen. Dass das Wasser nun nicht wieder abfließt, sondern den Menschen zur Verfügung steht, ist ihnen zu verdanken.
Die Männer bemerkten kaum, wie sehr Frauen täglich unter dem Wassermangel litten, sagt Babita Rajput. Vorher waren alle auf den See als Trinkwasserquelle angewiesen. Aber der trocknete wegen der geringen Niederschläge im Laufe des Jahres schnell aus. Die einzige Alternative blieb die Nutzung von Grundwasser. Im Dorf gab es aber nur zwei Handpumpen und immer viel Andrang.
„Bevor ich mich den Jal Saheli anschloss, hatten wir ein ernstes Wasserproblem“, erinnert sie sich. Doch in den vergangenen zwei Jahren habe sich die Situation entspannt. Im Wasserrat entscheidet Babita Rajput nun mit, wo eine neue Handpumpe gebaut oder ein verwahrloster Dorfteich wiederbelebt werden kann. „Jetzt bin ich in der Lage, für meine Rechte zu kämpfen“, sagt Rajput, die aus einer Bauernfamilie aus Agrotha kommt.
Wasser ist Frauensache
„Wasser ist im Grunde eine Frauensache, vor allem in Bundelkhand“, sagt Shivani Singh, Koordinatorin bei der Organisation Parmarth Samaj Sevi Sansthan, die den Frauen seit neun Jahren dabei hilft, Wasserdorfräte aufzubauen. Die Männer verlassen die Dörfer und heuern in der Fremde als Saison- oder Aushilfskräfte an. „Häufig schließen sich die Töchter ihren Müttern an, um Wasser zu holen, worunter ihre Schulausbildung leidet“, ergänzt Singh. Je nachdem, wie weit die Brunnen entfernt sind, füllt diese Aufgabe viele Stunden am Tag.
Durch ihre Aufgaben im Wasserrat bekommen die Frauen Anerkennung. „Wer zu einer Führungspersönlichkeit geworden ist, kann über mehr als nur Wasser im Dorfrat diskutieren“, so Singh. Die Corona-Pandemie hat neue Herausforderungen gebracht. Plötzlich waren wieder mehr Menschen in den Dörfern, Indiens Städte standen durch den Lockdown still. Die aus den Ballungszentren zurückgekehrten Arbeiter akzeptierten, dass Frauen bei der Wasserkonservierung und -verwaltung das Sagen haben.
Seit Rajput den „Jal Saheli“ beigetreten ist, ist sie über Chhatarpur hinaus bekannt geworden. Dazu trug bei, dass sie im Februar in einem Podcast des indischen Premierministers Narendra Modi als Wasserfrau lobend erwähnt wurde. „Ihr werdet alle Inspirationen in dem finden, was Babita Rajput aus dem Dorf Agrotha in Madhya Pradesh leistet“, sagte Modi. Stellvertretend wurden auch zwei „Jal Saheli“ von einem UN-Entwicklungsprogramm ausgezeichnet. Und: Der Gesang der Wasserfrauen inspirierte die Band „Faraway Friends” zu einem Remix auf ihrem Album „Rain is Coming“.
Traditionelle Stauseen gegen die Trockenheit
Trotz der Ehrungen verstehen nicht alle Dorfbewohner*innen, wenn Frauen selbstbewusst handeln. So wird manchmal hinter Rajputs Rücken gemunkelt, wie sie jemals einen Mann finden soll. Die Studentin stört das wenig, sie verfolgt ihre eigenen Pläne: Sie möchte nach der Uni als Lehrerin oder Sozialarbeiterin arbeiten. Seit der Pandemie unterrichtet sie im Dorf bereits die Jüngeren, da die Schulen weiterhin geschlossen sind. Und mit dem Heiraten hat sie es nicht eilig.
Die Region Bundelkhand allerdings hat schon lange mit Wassermangel zu kämpfen. „Dürreperioden treten immer häufiger auf“, erklärt die Wissenschaftlerin Radhika Singh, die ihre Masterarbeit darüber geschrieben hat. Grund sei die jahrzehntelange unkontrollierte Grundwasserentnahme durch die kommerzielle Landwirtschaft. „Diese Nutzung übersteigt bei Weitem die Neubildung des Grundwassers“, so Singh. Wasserknappheit mache die Menschen ärmer und zerstöre die Umwelt. Um die Lage zu verbessern, schlägt sie vor, genau das umweltgerechter zu gestalten.
„Viele Versuche, traditionelle Stauseen wiederzubeleben, sind aber gescheitert, da sie verfallen sind“, sagt Singh. Die Regierung will stattdessen überschüssiges Wasser aus anderen Gebieten umleiten, aber aufgrund der Auswirkungen auf Dörfer, Wälder und die Flussökologie raten Wissenschaftler*innen wie Singh von diesem Megaprojekt ab. Naturschützer*innen warnen, dass so ein nahegelegenes Tigerreservat zerstört werde. Außerdem werde dieses Flussverbindungsprojekt wohl nur Haushalten zugutekommen, die nahe an der Flusses Betwa liegen.
Den Sandabbau entlang der Flüsse einzuschränken, wäre eine Alternative. Doch Korruption verhindert diesen Weg – es ist ein zu lukratives Geschäft. Auch die Umstellung der Landwirtschaft von wasserintensiven Pflanzen auf ökologische Sorten und die Nutzung von Stauseen mit klaren Verwaltungsstrukturen, so dass sich Bevölkerung wie Regierung zum Regenwassersammeln verpflichtet fühlt, wäre eine Möglichkeit. „Der Ansatz der Jal Saheli hat die Wassersicherheit in vielen Dörfern verbessert”, erklärt Singh, doch es erfordert viele Ressourcen wie Koordination, Zeit und Geld. Es sei ihrer Meinung nach ein Wettlauf mit dem Klimawandel.
Im Juli hat der lang ersehnte Regen eingesetzt und damit die dritte Jahreszeit begonnen – die Monsunmonate zwischen Winter und Sommer, in denen etwa 90 Prozent des Jahresniederschlages fällt. In Chhatarpur sind die Teiche vollgelaufen. Die Felder erstrahlen in frischem Grün. Die Wasserbüffel glänzen schwarz. So idyllisch mutet Bundelkhand nur im Monsun an. Babita Rajput ist erleichtert. In dieser Zeit steigt der Pegel des Flusses Betwa, es bilden sich großflächige Seenlandschaften und das Problemen, zu wenig Wasser zu haben, scheint klein – bis es im Frühsommer wieder extrem heiß wird.
Weitere Infos Bundelkhand:
Die Region Bundelkhand verteilt sich auf zwei Bundesstaaten in Zentralindien: Madhya Pradesh und Uttar Pradesh. Sie gehören kulturell eng zusammen und teilen neben der Sprache das Problem der Wasserknappheit. Die wichtigsten Wasserquellen sind Stauseen, Teiche, Dämme und Flüsse, die sich während der Regenzeit füllen. Bundelkhand gehört zu den rückständigsten Gebieten Indiens mit niedriger Urbanisierung. Die Menschen leben vor allem von der Viehzucht und Landwirtschaft. Für Letztere werden etwa 70 Prozent des vorhandenen Wassers genutzt, schätzt Sozialarbeiter Sanjay Singh von der Organisation „Parmarth“. Der Rest muss für Industrie – etwa 12 bis 15 Prozent – und den Eigenbedarf der Bevölkerung reichen.
Unterstützt werden die „Jal Saheli“ durch die indische Organisation „Parmarth Samaj Sevi Sansthan“ (PSSS) aus Jhansi. Für die Verbesserung der Wasserbewirtschaftung wurde bis 2019 eine Ko-Finanzierung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung über die EU in Höhe von einer Million Euro für sechs nordindische Bundesstaaten zur Verfügung gestellt, sowie Mittel der Welthungerhilfe und Spenden von „Viva con Agua“. Letztere wurden zur Deckung der Kosten für eine Wasserrechtskampagne verwendet.
Mitarbeit: Mayur Yewle
Die Recherche wurde durch das European Journalism Center (EJC) gefördert.