In Süd-Tel Aviv leben Tausende afrikanische Asylbewerber, oft in prekären Verhältnissen. Besonders verwundbar: die Frauen. Viele sind alleinerziehend, arbeiten schwarz, manche erlitten Gewalt. Eine eritreische Nonne und eine südafrikanische Psychologin versuchen zu helfen – finanziell und moralisch.
Von Mareike Enghusen, Tel Aviv
Es ist leicht, sich in Tel Aviv zu verlieben: Immerhin ist das Israels junge Vorzeigestadt, Heimat der hippen Startup-Szene, gefeiert wahlweise als „Barcelona“ oder „San Francisco“ des Nahen Ostens. Die Stadt strotzt vor guten Restaurants, schönen Menschen, ewiger Sonne und Events wie der stolzen Gay-Parade. Dabei gibt es noch ein anderes Tel Aviv – schmutzig, arm und vernachlässigt –, das den meisten Besuchern verborgen bleibt: die Viertel um den zentralen Busbahnhof im Süden der Stadt. Anstelle von klimatisierten Supermärkten gibt es hier nur kleine, unmarkierte Läden, in die Produkte ohne erkennbare Logik hineingestopft sind. Statt Sushi-Restaurants findet man Straßenimbisse, deren Namen Außenstehende nicht entziffern können, weil sie in fremden Buchstaben geschrieben sind: auf Tigrinisch, der Amtssprache Eritreas. Denn hier, im Süden Tel Avivs, leben vor allem afrikanische Asylsuchende, auf engem Raum und oft in prekären Verhältnissen.
Eine von ihnen heißt Ashog Deng Loal Akowak, sie ist 38 Jahre alt. An einem Märznachmittag sitzt sie im Kreis mit anderen Frauen in den Räumen des „Project Kuchinate“, einer israelischen Hilfsinitiative für afrikanische Frauen. Sie trägt ein weißes Strickshirt und ein buntes Kopftuch, im Nacken gebunden. Geboren sei sie im Sudan, erzählt sie. Doch 2000 zog sie nach Ägypten, um der Gewalt und den ärmlichen Verhältnissen ihrer Heimat zu entfliehen. 2005 heiratete sie dort einen Mann, wie sie aus dem Sudan. Zwei Jahre darauf schlugen sich die beiden nach Israel durch. „In Ägypten haben die Menschen uns nicht respektiert“, erzählt sie, „sie warfen mit Steinen und Abfall nach uns und zündeten unsere Flüchtlingsunterkunft an“. Solche Exzesse hat sie in Tel Aviv noch nicht erlebt, trotzdem, sagt sie, sei das Leben hier „sehr hart“. Drei Kinder hat das Paar: elf, sieben und fünf Jahre alt. Der Mann geht arbeiten, hilft auf Baustellen aus oder geht putzen, was immer sich an Gelegenheitsjobs auf dem Schwarzmarkt finden lässt. Denn die beiden leben illegal in Israel, haben also auch keine Arbeitserlaubnis. „Ich sehe meine Zukunft nicht in diesem Land“, sagt sie selbst. Wohin würde sie gehen, wenn sie könnte? „Ich weiß es nicht. Überallhin, wo es besser ist als hier.“
Afrikanische Migranten als relativ neues Phänomen
Flucht und Migration aus Afrika nach Israel sind ein relativ neues Phänomen. Noch 2003 verzeichnete das Land so gut wie keine Asylanträge. Im Jahr 2006 waren es laut der UN-Flüchtlingsagentur UNHCR 1348 Anträge, im Jahr 2009 schon 9087. Doch nur in wenigen Einzelfällen gewähren die israelischen Behörden Asyl. Den Großteil der rund 45.000 Afrikaner, die derzeit im Land sind, stufen sie als Wirtschaftsmigranten ein. Allerdings schiebt Israel die meisten von ihnen auch nicht ab (bietet ihnen laut Medienberichten allerdings manchmal Geld, wenn sie freiwillig ausreisen). So kommt es, dass im Süden Tel Avivs Tausende Eriträer, Sudanesen und andere Afrikaner in einer legalen Grauzone leben: Menschen, die laut Gesetz gar nicht hier sein dürften, aber doch geduldet werden; die keine Arbeitserlaubnis haben, aber trotzdem Jobs auf Baustellen und in Putzkolonnen finden – gerüchteweise sogar in den Büros der Stadtverwaltung; Menschen, die ihre Kinder auf die öffentlichen Schulen schicken dürfen, aber keinen Zugang zum Gesundheits- und Sozialsystem haben.
Die Versorgungslücke, die auf diese Weise entsteht, füllen zivilgesellschaftliche Organisationen wie das Kuchinate-Projekt. Hier, im zweiten Stock eines etwas heruntergekommenen Betonklotzes, trifft sich Ashkok mehrmals in der Woche mit Frauen in ähnlicher Lage. „Kuchinate“ bedeutet „Häkeln“ auf Tigrinisch, und darin besteht der Kern des Projekts: Die Frauen stellen Körbe aus buntem Stoff her, verkaufen sie und erwirtschaften damit ein kleines Einkommen. Außerdem können sie hier psychosoziale Beratung bekommen, andere Frauen treffen, plaudern, Ratschläge austauschen, einander den Rücken stärken.
Zwei Frauen haben das Projekt ins Leben gerufen: Schwester Azezet Habtezghi Kidane, eine 58-jährige Nonne aus Eritrea, und Diddy Mymin Kahn, eine 51-jährige Psychologin, die in ihrer Jugend aus Südafrika nach Israel einwanderte. Schwester Azezet, eine kleine Frau mit weißer Haube über dem krausen Haar und einem Kreuz um den Hals, lebt seit 2010 in Israel, sie arbeitet hier ehrenamtlich als Krankenschwester für die NGO „Physicians for Human Rights”. Zuvor engagierte sie sich in humanitären Projekten im Sudan, in Äthiopien, Kenia und Uganda. „Viele der Frauen hier haben posttraumatische Probleme”, sagt sie. Der Weg durch den Sinai, den sie auf dem Weg zur israelischen Grenze zurücklegen müssen, ist beschwerlich – und brandgefährlich: Unter den dort lebenden Beduinenstämmen gibt es Gruppen, die Entführung und Lösegelderpressung zu ihrem Geschäftsmodell gemacht haben. In den vergangenen Jahren kidnappten sie Tausende afrikanische Flüchtlinge, sperrten sie ein und folterten sie, um von ihren Angehörigen Lösegeld zu erpressen. Manche sterben unter der Folter. Die, die überleben, sind oft für den Rest ihres Lebens körperlich und seelisch gezeichnet. An der Grenze zu Israel schließlich droht eine weitere Gefahr: Ägyptische Sicherheitskräfte haben wiederholt Migranten bei dem Versuch, die Grenze zu überqueren, erschossen.
Zwischen 5000 und 7000 der Afrikaner in Israel wurden laut einer Schätzung der „Physicians for Human Rights” in Foltercamps im Sinai festgehalten. Zwischen 2010 und 2012 hat Schwester Azezet 1500 von ihnen systematisch befragt, eine Datenbank entwickelt und jeden Fall von Folter dort eingetragen. Gemeinsam mit Diddy Mymin Kahn hat sie ein Handbuch zur Selbsthilfe für Folteropfer geschrieben, die sich keinen Psychologen leisten können. Und sie hat die internationale Gemeinschaft zum Handeln aufgerufen, wieder und wieder. „Die Welt schweigt!”, klagte sie 2014 auf einer Rede zum Internationalen Frauentag im Vatikan. „Der Welt sind diese Männer und Frauen egal – weil sie arme Afrikaner sind!” Im Juni 2012 verlieh Hillary Clinton, damals US-Außenministerin, ihr den „Trafficking in Persons Report Hero Award“, eine Auszeichnung des US-Außenministeriums für Menschen, die sich im Kampf gegen Menschenhandel verdient gemacht haben.
Häusliche Gewalt nach Machtverlust der Ehemänner
In den vergangenen Jahren hat Schwester Azezet nur noch wenige neue Folteropfer getroffen, was vor allem daran liegt, dass insgesamt kaum noch Afrikaner nach Israel vordringen: Seit Israel 2013 einen Zaun an der Grenze zu Ägypten fertiggestellt hat, der gegen Angriffe vor Islamisten schützen sowie illegale Einwanderung verhindern soll, fiel die Zahl der afrikanischen Asylbewerber von rund 10.000 auf 43 im ersten Jahr. Nun kümmern sich Schwester Azezet und ihre Mitstreiterin Diddy Mymin Kahn vor allem um Frauen wie Ashkok, die auf dem äußeren Rand der Gesellschaft balancieren, obwohl sie oft schon jahrelang im Land sind.
2009 waren höchstens 15 Prozent der afrikanischen Asylbewerber in Israel weiblich, heißt es in einer Studie der Universität von Haifa. Diese Frauen sind die verwundbare Minderheit in einer ohnehin marginalisierten Bevölkerungsgruppe. Viele haben kleine Kinder, die sie versorgen müssen. Und manche sind dabei ganz auf sich allein gestellt. „Wir haben drei Frauen in unserem Zentrum, die von ihren Männern verlassen wurden, ohne dass die sich auch nur abgemeldet hätten“, berichtet Schwester Azezet. „Erst nach ein paar Wochen fanden die Frauen heraus, dass ihre Männer das Land verlassen hatten! Sie selbst blieben mit ein, zwei kleinen Kindern zurück.“
Diddy Mymin Kahn zählt weitere Probleme auf: „Viele der Frauen haben keinen Zugang zu den Sozialsystemen, werden also niemals für sich selbst sorgen können. Und es gibt Probleme mit häuslicher Gewalt. Manche Frauen gehen arbeiten, sie werden selbstständiger, während die Männer einen Verlust von Macht erleben. Es gab mehrere Fälle, in denen Frauen ermordet wurden. Und die westliche Methode, mit solchen Dingen umzugehen, schafft weitere Probleme: Ein Mann schlägt seine Frau, die Polizei kommt und nimmt ihn fest. Aber die Frau hat drei kleine Kinder, sie kann nicht genügend arbeiten. Dann kommt sie zu uns und sagt: ‘Bitte helft mir, meinen Mann zu befreien, ich lebe lieber mit einem gewalttätigen Mann zusammen, als dass ich die Miete nicht bezahlen kann.’ Dann müssen wir ihnen sagen: ‘Sorry, aber so funktioniert das Gesetz nicht.’”
Finanziell wird das Kuchinate-Projekt unterstützt von der EU, den Vereinten Nationen und diversen privaten Spendern. Weitere Einnahmen entstehen durch den Verkauf der Körbe, und gelegentlich geben die Frauen Führungen durch Süd-Tel Aviv, veranstalten Fundraising-Feiern und Vorträge. Ashog Deng Loal Akowak verdient sich hier ein wenig dazu.
Die Zukunft der Frauen bleibt dennoch ungewiss. Die meisten sind keine politisch verfolgten Flüchtlinge im Sinne der UN-Flüchtlingskonvention. Ashog Deng Loal Akowak und ihr Mann etwa lebten und arbeiteten jahrelang in Ägypten, bevor sie nach Israel kamen. Ihre Chance auf Asyl ist gleich null. „Diese Frauen haben keine Zukunft in Israel”, sagt Diddy Mymin Kahn.
Mit dem Kuchinate-Projekt und einigen ähnlichen Initiativen haben sie zumindest einen Raum, indem sie sich ein-, zweimal die Woche am Zusammenhalt der Gemeinschaft stärken können. Und manchen gelingt es sogar, inmitten des Elends neue Hoffnung zu fassen. Manchmal, erzählt Schwester Azezet, trifft sie Frauen auf der Straße, die den Folterkammern des Sinais entflohen sind. Manche der Frauen wurden von ihren Folterern vergewaltigt und geschwängert. „Sie sagen zu mir: ‘Schwester Azezet, die Schwangerschaft war furchtbar für mich. Ich konnte den Mann, der mich missbraucht hat, nicht einmal sehen, weil meine Augen verbunden waren. Aber jetzt ist mein Baby der Grund für mich, weiterzuleben.’”