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Aktivistin oder Terroristin?
Die politische Verfolgung von Francisca Linconao

5. April 2017 | Von Sophia Boddenberg
Die Mapuche-Aktivistin Francisca Linconao kämpft für ihr Territorium im Süden Chiles. Foto: Radio Universidad de Chile

Francisca Linconao ist Mapuche und kämpft gegen den chilenischen Staat, der ihrem Volk das Land weggenommen hat und gegen Unternehmen, die den Wald abholzen, in dem sie lebt. Weil sie sich dagegen wehrt, steht sie wegen Terrorverdacht unter Hausarrest.

Von Sophia Boddenberg, Santiago de Chile

Francisca Linconao ist 60 Jahre alt und wiegt nach einem Hungerstreik noch 40 Kilogramm. Ihre dunkle, hauchzarte Haut liegt direkt auf den Wangenknochen auf. Das Leben hat ihr Gesicht mit vielen Falten gezeichnet. Sie trägt stets ein blaues Kopftuch, das sie hinter dem Kopf zusammenbindet. An beiden Seiten guckt ihr dünnes schwarzes Haar hervor. Vor der Brust trägt sie eine schwere silberne Kette, die zu ihrer traditionellen Kleidung gehört und leise klimpert, wenn sie sich bewegt. Sie ist eine „Machi“, eine spirituelle Autorität des Volkes der Mapuche und eine Heilerin.

„Machi zu sein ist eine Gabe. Es ist keine Rolle, die man sich aussucht oder zu der man gewählt wird, sondern man wird als Machi geboren. Das bedeutet eine große Verantwortung“, erklärt Ingrid Conejeros, ihre Sprecherin, die sie stets begleitet und anstelle von ihr mit Journalisten spricht. Francisca Linconao wird beschuldigt, Mittäterin bei einem Brandschlag gewesen zu sein, der von der chilenischen Regierung als Terrorakt verurteilt wird. Das umstrittene chilenische Anti-Terror-Gesetz ermöglicht dem Staat, die indigenen Mapuche, die sich für die Rückgewinnung ihres Territoriums einsetzen, strafrechtlich als potentielle Terroristen zu verfolgen.

Ingrid Conejeros ist die Sprecherin von Francisca Linconao, auf Mapundungun nennt man diese Aufgabe werkén (Foto: privat).

Die Anschuldigungen drehen sich vor allem um den 4. Januar 2013. An diesem Tag stirbt bei einem Feuer das Großgrundbesitzerpaar Werner Luchsinger und Vivian MacKay in ihrem Wohnhaus in der Araucanía-Region im chilenischen Süden. Die Vorfahren der Luchsingers waren im 19. Jahrhundert aus der Schweiz nach Chile gekommen. Schweizer und auch Deutsche sollten die Araucanía-Region landwirtschaftlich erschließen, denn sie hatten den Ruf, fleißig, diszipliniert und effizient zu sein. Im Süden Chiles befindet sich heute das Epizentrum des Konflikts zwischen dem Mapuche-Volk, das von Unternehmen, Großgrundbesitzern und dem Staat sein Land zurückfordert, und seinen Gegnern.

Mapuche werden schnell als Terroristen verunglimpft

Der chilenische Innenminister und ein Großteil der Medien sprechen nach dem Brandanschlag sofort von „Mapuche-Terrorismus“, die Polizei durchsucht Mapuche-Gemeinden in der ganzen Region nach Verdächtigen. Auch Linconao wird kurze Zeit später festgenommen. Unter Zwang muss sie ihre traditionelle Kleidung ablegen und wird mit Handschellen der Presse vorgeführt. Ihr wird illegaler Waffenbesitz vorgeworfen und sie bekommt nächtlichen Hausarrest.

Doch im Oktober 2013 sie spricht das Strafgericht von Temuco von allen Anklagepunkten frei. Sie verklagt daraufhin den chilenischen Staat wegen der körperlichen und religiösen Schädigung ihrer Person und der Missachtung ihrer Stellung als Machi vor dem Gericht von Temuco – und sie gewinnt. Die Entschädigung hat ihr jedoch bis heute niemand ausbezahlt. Und ihr Leidensweg ist noch lange nicht zu Ende.

Für Francisca Linconao ist es wichtig in Verbindung mit der Natur zu sein, denn sie arbeitet mit Heilpflanzen (Foto: Ingrid Conejeros).

Francisca Linconao ist eine von vielen Mapuche, die Gewalt, Verfolgung und Unterdrückung erleben. Ihr Fall lenkte weltweit die Aufmerksamkeit von Medien, Politikern und Menschenrechtsorganisationen auf das kämpferische Volk. Laut Statistik rechnen sich mehr als 1,5 Millionen Menschen den Mapuche zu: Damit stellen sie fast zehn Prozent der chilenischen Gesamtbevölkerung. Der Großteil von ihnen lebt in der Araucanía-Region im Süden Chiles, andere – weitgehend kulturell entwurzelt – in der Hauptstadt Santiago. Mapuche heißt in ihrer Sprache Mapudungun so viel wie „Menschen der Erde“. Nur noch zehn bis 15 Prozent der Mapuche sprechen ihre Sprache aktiv – dabei handelt es sich um eine rein gesprochene Sprache.

Mapuche leben nicht nur in Chile, ihr Siedlungsgebiet erstreckt sich auch nach Argentinien. Sie sind in Großfamilien organisiert, sozialen Bindungen und Verwandtschaft wird eine große Bedeutung zugeschrieben. Aber obwohl ihre gemeinsame Geschichte und Identität sie eint, sind die Mapuche ein heterogenes Volk. Manche leben völlig in der chilenischen Mehrheitsgesellschaft integriert in Städten, anderen wohnen auf dem Land und arbeiten in der Landwirtschaft, wieder andere bevorzugen „comunidades“, also selbst organisierte Gemeinschaften, in denen sie ihre Traditionen und Bräuche ausleben und eigene Schulen haben, in denen Mapudungun unterrichtet wird.

Erst seit einigen Jahren beginnt eine Neubesinnung auf die eigene Kultur und Identität, die lange Zeit unterdrückt wurde. Gleichzeitig gibt es eine politisch radikale Gruppe, die sich im bewaffneten Konflikt mit den Großgrundbesitzern und Unternehmen im chilenischen Süden befindet. Der Landkonflikt der Mapuche reicht weit in die Geschichte zurück. Da die spanischen Eroberer die Mapuche nicht besiegen konnten, verhandelten sie mit ihnen und überließen ihnen mit dem Vertrag von Quilín von 1641 ein unabhängiges Territorium von etwa zehn Millionen Hektar. Mit der Unabhängigkeit Chiles 1810 kam es zu einer Wende, da der neu gegründete chilenische Staat sich weigerte, den Vertrag anzuerkennen.

Der Ursprung des Konflikts reicht 200 Jahre zurück

Chilenische Truppen marschierten in die Araucanía-Region ein und brachen den Widerstand des Volkes. Die neue Regierung übergab große Teile des Landes an chilenische oder ausländische Siedler wie die Luchsingers; die Mapuche wurden vertrieben und damit ihr selbstbestimmtes Leben in Freiheit zerstört. Ihr Territorium wurde auf 500.000 Hektar reduziert. Der chilenische Anthropologe José Bengoa bezeichnet dieses historische Ereignis als „ein dunkles Kapitel der chilenischen Geschichte“ und geht davon aus, dass genau da der heutige Mapuche-Konflikt seinen Ursprung hat.

Plakat für Francisca Linconao in Santiago de Chile (Foto: privat).

Unter der Regierung des sozialistischen Präsidenten Salvador Allendes Anfang der 70er Jahre wurden bei einer Agrarreform Großgrundbesitzer enteignet und 700.000 Hektar Land an die Mapuche zurückgegeben. Diese positive Entwicklung war jedoch nur von kurzer Dauer. 1973 übernahm General Augusto Pinochet durch einen Putsch die Macht und erklärte die Landvergabe Allendes für nichtig. Unter dem Motto „Somos todos chilenos“ (Spanisch „Wir sind alle Chilenen“) wurde den Mapuche der Status als ethnische Minderheit aberkannt. Im Zuge der neoliberalen Öffnung Chiles in den 80er Jahren drängten vermehrt ausländische Investoren ins Land, insbesondere in das von den Mapuche beanspruchte Territorium, das reich an natürlichen Ressourcen ist.

Auch nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 haben die chilenischen Regierungen die Rechte der Mapuche systematisch missachtet. Ihre Ländereien wurden an private Forst- und Energieunternehmen wie CMPC, Endesa und RP Global verkauft. Der natürliche Wald wich Wasserkraftwerken, Eukalyptus- und Kieferplantagen für die Holzindustrie, industriellen Anlagen zur Lachszucht und Müllhalden.

Francisca Linconao ist exemplarisch für den Konflikt

Die Geschichte von Francisca Linconao ist ein exemplarischer Fall für den Konflikt zwischen den Mapuche und dem chilenischen Staat. In der Nacht vom 30. März 2016 verhaftet die chilenische Polizei im Morgengrauen bei einer Razzia erneut elf Mapuche, eine von ihnen ist wieder Francisca Linconao. Sie befand sich wegen des Verdachts der Mittäterschaft an der Brandstiftung mit Todesfolge bis Januar 2017 in Untersuchungshaft. Grundlage für die erneute Verhaftung war die Aussage eines festgenommenen Mapuche, der beteuerte, unter Androhung von Gewalt eine Falschaussage gemacht zu haben. Der Hauptverdächtige Celestino Córdova, ebenfalls Mapuche-Heiler, wurde bereits zu 18 Jahren Haft verurteilt.

Die chilenische Justiz beruft sich bei Festnahmen häufig auf das Anti-Terror-Gesetz, auf dessen Grundlage bereits mehrere Mapuche-Aktivisten verhaftet wurden und das internationale Menschenrechtsorganisationen wie „Amnesty International“ kritisieren. Es wurde am 16. Mai 1984 von General Pinochet während der Militärdiktatur genehmigt. Es erlaubt „Terroristen“, die sich gegen die Regierung wenden, auch ohne klare Beweislage und ohne Gerichtsprozess im Gefängnis unter dem Vorwand der Untersuchungshaft festzuhalten.

In einem Brief kündigt Machi Francisca ihren Hungerstreik an und fordert ihre Befreiung (Foto: Ingrid Conejeros).

Es lässt Aussagen anonymer Zeugen zu, verbietet den Strafverteidigern in den ersten sechs Monaten des Verfahrens Zugang zu den Ermittlungsakten und erlaubt bei bestimmten Straftaten die Verdopplung der Strafe. Die Definition von Terror ist zugleich äußerst schwammig. Als Michelle Bachelet 2014 Präsidentin wurde, sicherte sie zu, das Anti-Terror-Gesetz und das System der Militärjustiz mit internationalen Standards in Einklang zu bringen. Ein Gesetzentwurf für eine Reform scheiterte jedoch am Widerstand konservativer Politiker.

„Der Fall der Machi Francisca ist ein Beispiel ist für die konstante Verfolgung des chilenischen Staates von Aktivisten des Mapuche-Volkes. Sie ist eine Gefahr für die Regierung, weil sie sich auflehnt, weil sie Forderungen stellt und weil sie ein Unternehmen und den Staat verklagt hat“, betont Sprecherin Ingrid Conejeros. Der Beginn der Verfolgung von Francisca Linconao liegt schon fast zehn Jahre zurück: Im Jahr 2008 gewann sie einen Gerichtsprozess gegen das Forstunternehmen Palermo Limitada, das in ihrer Gemeinde den Wald rodete. Die Machi berief sich dabei auf ein Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, das der chilenische Staat kurz zuvor unterzeichnet und ratifiziert hatte.

Die Konvention ILO 169 ist das einzige verbindliche internationale Abkommen, das dem Schutz der Rechte indigener Völker gewidmet ist. Es erkennt unter anderem die Bestrebungen dieser Völker an, „im Rahmen der Staaten, in denen sie leben, Kontrolle über ihre Einrichtungen, ihre Lebensweise und ihre wirtschaftliche Entwicklung auszuüben und ihre Identität, Sprache und Religion zu bewahren und zu entwickeln“.

Wald abholzen? Nicht mit Francisca Linconao

Die Familie Taladriz, der das Unternehmen gehört, war ein Nachbar von Linconao. Ihr Grundstück grenzte direkt an den Wald, der ihre Lebens- und Arbeitsgrundlage darstellt. Für Machis ist es besonders wichtig, in Kontakt mit der Natur zu sein. Als sie sah, dass die Firma den Wald abholzte, in dem die „lawen“, die Heilkräuter, wachsen, die sie für ihre Arbeit als Machi braucht und dass für ihr Volk heilige Stätten zerstört wurden, ging Linconao vor Gericht. Ihrer Klage wurde vom Obersten Gerichtshof stattgegeben.

Es war das erste und bis dahin einzige Mal, dass die Konvention ILO 169 in Chile angewandt wurde. Die Firma durfte daraufhin nicht weiter in den Arbeitsraum von Linconao eingreifen. „Die Machi ist ein Präzedenzfall, denn sie ist die erste Frau des Mapuche-Volkes, die einen Gerichtsprozess gegen ein Unternehmen gewann und so einen heiligen Ort beschützen konnte. Damit wurde der Grundstein für ihre Verfolgung gelegt“, sagt Conejeros.

Innerhalb von zwölf Monaten, die nun seit Linconaos letzter Verhaftung vergangen sind, hat das Gericht von Temuco vier Mal entschieden, dass sie ihre Untersuchungshaft als Hausarrest absitzen darf anstatt im Gefängnis. Und vier Mal hat das Berufungsgericht den Hausarrest aufgehoben und veranlasst, dass Linconao zurück ins Frauengefängnis musste. Das vierte Mal war im Dezember vergangenen Jahres, woraufhin Linconao in Hungerstreik trat. „Ich bin sehr krank. Ich bin müde, gelangweilt und erschöpft. Ich bitte die Regierung um Hilfe“, sagte sie in einer Videobotschaft aus dem Krankenhaus, in das sie wegen ihres kritischen gesundheitlichen Zustands gebracht wurde.

Demonstration der Mapuche, auf dem Plakat steht: “Für unsere Großeltern und unsere Kinder leisten wir Widerstand, um uns zu befreien.” (Foto: privat)

Gleichzeitig starteten bekannte lateinamerikanische Musikgruppen eine internationale Kampagne, um die Freiheit von Francisca Linconao zu fordern. Dazu gehören Calle 13 aus Puerto Rico, Los Jaivas aus Chile und Andrea Echeverri aus Kolumbien. In vielen Städten Chiles und Lateinamerikas gab es Proteste und Solidaritätsbekundungen. „Liberar, liberar a la machi por luchar“ (Spanisch „Freiheit für die Machi, die kämpft“), riefen die Menschen.

Auch in Deutschland versammelten sich Unterstützer zu einer Kundgebung vor der chilenischen Botschaft in Berlin in Solidarität mit Francisca Linconao. Schließlich gab das Gericht von Temuco dem internationalen Druck nach und wandelte nach 14 Tagen Hungerstreik die Untersuchungshaft erneut in Hausarrest um. Linconao darf vorerst zu Hause auf ihr Gerichtsurteil warten. Wie lange, ist noch nicht bekannt.

 

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Von Sophia Boddenberg, Santiago de Chile

Sophia Boddenberg berichtet als freie Journalistin für Radio, Online und Print aus Chile und beschäftigt sich mit Themen rund um Frauenrechte und soziale und politische Bewegungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Sie hat Journalistik studiert und ein Masterstudium in Sozial- und Politikwissenschaften Lateinamerikas in Santiago de Chile absolviert. Mehr unter: http://sophiaboddenberg.com.

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Mareike GraepelHaltern
Die US-Amerikanerin Cindy O’Brien lebt seit den 90er Jahren in Connemara, ganz im Westen von Irland und züchtet seltene Seeschnecken. Die sogenannten japanischen Abalone gedeihen an der irischen Küste gut. Sie gelten als Delikatesse und Aphrodisiakum, kosten bis zu 44 Euro pro Kilo – und sehen aus wie Vulven.

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