Malta verbietet als einziger Staat in der Europäischen Union Schwangerschaftsabbruch komplett – der Eingriff kann mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden. Betroffene Frauen reisen daher ins Ausland oder bestellen Abtreibungs-Pillen online. Einige Mediziner*innen wollen das ändern.
Von Christine Memminger, München / Valletta
Wuchtig erheben sich die dicken Stadtmauern Vallettas über dem Mittelmeer. Der gelbe Sandstein trotzt seit Jahrhunderten Wellen, Stürmen und Kriegen. Am südlichsten Zipfel Europas liegt – rein optisch – eine Stadt wie im Mittelalter. Tourist*innen lieben diesen Flair, Filmschaffende nutzen ihn als Kulisse. Doch auch Maltas Gesetze zu Abtreibung stecken in vergangenen Zeiten fest.
Bis zu drei Jahre Haft drohen Frauen bei einem Schwangerschaftsabbruch – egal ob Leben von Kind oder Mutter in Gefahr sind, ob eine Vergewaltigung stattfand oder ein Teenager schlicht überfordert ist. Abtreibung ist in jedem Fall strikt verboten. Nirgends sonst in der EU gelten so strenge Gesetze, abgesehen vom Vatikan. Auch weltweit gibt es nur wenige Länder, wo nicht zumindest ein Abbruch erlaubt ist, wenn die Mutter durch die Schwangerschaft in Lebensgefahr schwebt. Bisher sind alle Reformvorschläge an den maltesischen Festungsmauern abgeprallt.
Doch es regt sich Widerstand. Immer mehr Aktivist*innen setzen sich für die Entkriminalisierung von Abtreibungen ein. Darunter sind seit dem Frühjahr 2019 auch die „Doctors for Choice“. „In der Kinderheilkunde sehen wir viele Babys mit schwerwiegenden, oft tödlichen Anomalien. Niemand hat den Müttern gesagt, dass es vielleicht besser wäre, die Schwangerschaft abzubrechen“, erzählt Elena Saliba.
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Die 30-Jährige ist Kinderärztin im größten Krankenhaus der Insel. „Zu uns kommen auch Zwölfjährige, die schwanger sind. Ich war es leid, nicht mal mit Kollegen über das Thema sprechen zu können. Niemand durfte das Wort ‚Abtreibung’ in den Mund nehmen.“ Deshalb hat sie im Frühjahr 2019 „Doctors for Choice“ mitgegründet. Die Gruppe aus Ärzt*innen unterschiedlicher Fachrichtungen will vor allem Aufklärung betreiben.
„Frauen bringen sich in ernsthafte Gefahr“
Denn selbstverständlich gibt es auch Malteserinnen, die abtreiben. Saliba und ihre Mitstreiter*innen schätzen, dass es zwischen 300 und 500 pro Jahr sind. Viele von ihnen reisen für den Eingriff ins Ausland, zum Beispiel nach Italien. In 90 Minuten auf der Fähre gelangen sie von Malta nach Sizilien und lassen sich dort in einer Privatklinik behandeln. Noch am selben Tag geht es dann zurück in die Heimat. Andere fliegen ins Vereinigte Königreich von Großbritannien.
Manche lassen sich auch Abtreibungspillen per Post aus den Niederlanden schicken und nehmen diese zu Hause ein. Man kann sie über bestimmte Organisationen online bestellen. Aber all das ist illegal und teilweise teuer. „Frauen bringen sich dadurch in ernsthafte Gefahr“, warnt Elena Saliba. „Niemand begleitet den gesamten Prozess, sie müssen es komplett geheim halten.“ Sie berichtet von Patientinnen, die sich trotz starker Nachblutungen nicht trauen, zum*zur Gynäkolog*in zu gehen: „Sie müssen lügen. Dabei hätten sie Besseres verdient. Sie brauchen in diesem Moment die Unterstützung von Familie, Freund*innen und Ärzt*innen.“
Auf einer neuen Online-Plattform teilen Malteserinnen anonym ihre Geschichten. Unter dem Stichwort #BreakTheTaboo berichten sie von grausamen Erfahrungen, Angst und Einsamkeit. Eine an Krebs erkrankte Mutter schreibt: „Meine beiden Kinder waren mir wichtiger als der Fötus.“ Paare erzählen, dass sie ein Wunschkind erwarteten, dieses jedoch schwer behindert zur Welt kommen oder kurz nach der Geburt sterben würde. „Ich war gezwungenermaßen ein wandelndes Grab.“
Manche schreiben von dem Versuch, mit einem Kleiderbügel abzutreiben. Andere von ihren traumatischen Erlebnissen während des Corona-Lockdowns im April und Mai 2020: „Als ich die Insel endlich verlassen konnte, hat mich kein Hotel aufgenommen. Alle Zimmer waren wegen der Pandemie für Touristen gesperrt.“ Und immer wieder: „Niemand half mir. Ich war ganz allein.“ Mit Schauspieler*innen werden diese Statements auch per Video verbreitet.
„Gehirnwäsche“ in der Schule
Doch auf der kleinen Insel Malta kommt so langsam niemand mehr an dem Thema vorbei. So oft es geht, bauen die „Doctors for Choice“ und andere Organisationen in der Hauptstadt Valletta ihre Infostände auf – zum Beispiel am Weltfrauentag im März. Mit einem breiten Lächeln legt Elena Saliba Flyer, Sticker und Kondome aus. Sie trägt wie die anderen Aktivist*innen ein lilafarbenes T-Shirt, ihre schwarzen Locken fallen wild auf die Schultern. Sie ist ständig in Bewegung, spricht mit Jugendlichen und verteilt ihre Visitenkarten.
„Wir dürfen immerhin über Abtreibung informieren und auf unser neues, anonymes Info-Telefon hinweisen“, sagt Saliba. Es gibt diesbezüglich keine neuen Gesetze, sondern einfach zum ersten Mal in der Geschichte Maltas eine Gruppe, die so etwas anbietet. „Noch lieber würden wir natürlich in die Schulen gehen“, sagt die Kinderärztin. Denn dort finde bisher eine „totale Gehirnwäsche“ statt. „Priester verbreiten dort die Auffassung, Abtreibung sei Mord.“ Doch bisher habe sie kein*e Rektor*in hinein gelassen.
Der Katholizismus ist in Malta als Staatsreligion festgeschrieben. Jeder noch so kleine Ort besitzt mindestens ein prunkvolles Gotteshaus und zwei Drittel der Bildungseinrichtungen gehören der Kirche. Marienbilder und Statuen von Heiligen zieren private Hauseingänge. Wenn man mit Aktivist*innen spricht, kommt immer der Moment, in dem sie die Augen rollen und antworten: „Es liegt an der Kirche.“ Ein „leider“ schieben viele hinterher.
Auf der Demonstration am Weltfrauentag erzählt eine junge Frau: „Wir hatten nie Sexualkunde-Unterricht in der Schule. Es wurde nie erwähnt. Es ging immer nur um Abstinenz.“ Sie ist jetzt 22 Jahre alt und hat sich sämtliche Informationen über Verhütung im Internet zusammengesucht. „Du wirst älter, machst Erfahrungen, und merkst plötzlich: Scheiße, irgendwas läuft doch hier falsch!“ Die Mädchen um sie herum nicken. In Salibas Medizinstudium an der University of Malta wurde das Kapitel Abtreibung einfach übersprungen. Und das Ethik-Modul wurde von Priestern gelehrt.
Mit ihnen zusammen haben an diesem Tag auch Abtreibungs-Gegner*innen demonstriert. Mit konträren Sprüchen auf ihren Plakaten zogen beide Gruppen durch die Straßen Vallettas. Lauter waren die Befürworter*innen mit ihrem Ruf nach Selbstbestimmung: „Mein Körper, meine Entscheidung!“ Doch mehr Einfluss haben die „Pro Life“-Organisationen: „Schutz ab Empfängnis!” Bis vor Kurzem hatten sie eine Monopolstellung mit ihren Beratungsstellen bei ungewollter Schwangerschaft. Nur dort konnten sich Frauen über finanzielle und psychologische Hilfe informieren, über die Option auf einen Platz in einer Mutter-Kind-Unterkunft oder Adoption. Über alles wurde gesprochen, nur nicht über Abbruch. Das ist in den „Pro Life“-Beratungsstellen noch immer so. Die meisten Frauen wenden sich dorthin. Aber es gibt jetzt eben auch das neue „Pro Choice“- Info-Telefon.
Verschiedene Umfragen zeigen, dass über 80 Prozent der Malteser*innen das Abtreibungsverbot befürworten, bei den Menschen über 55 Jahre sind es sogar fast 100 Prozent. Staatspräsident George Vella, selbst ausgebildeter Arzt, nahm demonstrativ an einer Veranstaltung der „Pro Life“-Bewegung in einer Kirche teil und betonte, dass er ganz im Sinne der maltesischen Bevölkerung spreche. „Abtreibung ist Mord an einem Baby im Mutterleib“, sagte er. „Das hat nichts mit Religion zu tun. Die Haltung gegen Mord war bereits lange vor Christus da.“
Ein Land der Kontraste
Dabei ist der kleinste Staat der Europäischen Union keineswegs in allen Belangen rückständig. Gegenüber der Bucht von Valletta wachsen Wolkenkratzer in den Himmel, dort entstehen moderne Bürokomplexe und Wohnungen. Aus der ganzen Welt arbeiten darin Menschen in Bereichen wie Online-Gaming und Krypto-Währungen. Die Partymeile in Paceville hat bei Engländer*innen einen Ruf wie bei Deutschen der Ballermann. Die maltesische Regierung hat in den vergangenen Jahren Europas progressivste LGBTQ-Gesetze eingeführt, Scheidungen und die Homo-Ehe legalisiert. Nur in puncto Abtreibung bleibt die Bastion hart. Der Kontrast zwischen Moderne und Tradition könnte kaum stärker sein, was nicht zuletzt zur Spaltung der Bevölkerung führt.
Der 27-jährige Kinderarzt Jamie Grech hat sein Stethoskop umhängen und steht zusammen mit Elena Saliba am Info-Stand. Er gehört ebenfalls zum Gründungsteam der „Doctors for Choice“ und berichtet von massiven Anfeindungen zu Beginn: „Es war aktive Belästigung, Schikane. Hass und Hetze. Vor allem von anderen Ärzten.“ Öffentlich wurden sie auf Facebook-Seiten beleidigt, ihre Profession angezweifelt. Manche hätten nach Wegen gesucht, ihnen die Lizenz zu entziehen. Unter dem Titel „Doctors for Life“ gründeten andere Mediziner*innen eine Gegenbewegung und verkündeten stolz, dass sie zahlenmäßig weit überlegen seien, 600 zu 50. „Dabei geht es uns nicht um Zahlen. Uns geht es um Menschenrechte“, sagt Grech. „Doctors for Choice“ habe deutlich mehr als 50 Mitglieder, die genaue Zahl sei unwichtig.
Inzwischen haben die Beleidigungen nachgelassen. „Sie haben gemerkt, dass wir uns nicht einschüchtern lassen. Wir sind gekommen, um zu bleiben“, meint Grech. Ärzt*innen in Malta spielen grundsätzlich eine wichtige Rolle. Viele von ihnen sind auch politisch engagiert. Bei den nur rund 500.000 Einwohner*innen gibt einen Witz, in dem es heißt, dass es unmöglich sei, eine*n Gynäkolog*in zu finden, mit der*dem man nicht über zwei Ecken verwandt sei.
Auch Verhütung ist bei vielen noch immer ein Tabuthema. Offiziell ist zwar inzwischen sogar die „Pille danach“ rezeptfrei erhältlich. Aber Apotheken sind nicht verpflichtet, diese auch zu verkaufen. Manche weigern sich bisher, sie in ihr Sortiment aufzunehmen. Manche Apotheker*innen reden Käuferinnen ins Gewissen oder informieren deren Eltern. Die vorbeugende Antibabypille ist oft ausverkauft. Seit dem Corona-Lockdown fehlt Nachschub, denn die Regierung stuft die Pille nicht als „essentielles Medikament“ ein, deren Bestellung nun Vorrang hat.
„Uns geht es nicht nur um die Legalisierung von Abtreibung, sondern auch um Aufklärung über Verhütungsmethoden. Und dass Verhütungsmittel in Zukunft gratis sind“, sagt Kinderärztin Elena Saliba. „Denn das wären die richtigen Maßnahmen, um die Abtreibungsrate wirklich zu reduzieren.“ Zumindest bei der jüngeren Bevölkerung ist ein Umdenken erkennbar. Knapp die Hälfte der Befragten zwischen 16 und 25 Jahren geben in einer aktuellen Umfrage an, dass sie für die Legalisierung von Abtreibungen sind. Bei der Altersgruppe zwischen 26 und 35 sind es immerhin noch gut ein Viertel. Deshalb ist sich Elena Saliba sicher, dass sich die Gesetze ändern werden. Sie sagt: „Die Frage ist nicht ob, sondern wann.“
Transparenzhinweis: Spanien-Korrespondentin Christine Memminger begann die Recherche zu diesem Artikel Anfang 2020 in Malta. Einen Teil der Interviews führte sie auf dem Weltfrauentag am 8. März, kurz bevor sie wegen der Corona-Pandemie die Insel verließ. Ausführliche Interviews mit Elena Saliba und Jamie Grech folgten dann per Videochat einige Monate später.