Im Jahr 2014 verloren fast 200 Niederländer*innen beim Absturz des Flugzeugs mit der Nummer MH17 in der Ostukraine ihr Leben. Die Hinterbliebenen sind ratlos und geschockt, der Verlust hat tiefe Wunden gerissen. Auch sieben Jahre danach sind sie kaum verheilt.
Von Sarah Tekath, Amsterdam
Viele sind auf dem Weg nach Hause oder in den langersehnten Urlaub: Am 17. Juli 2014 startet Flug MH17 in Amsterdam in Richtung der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur. Aber dort kommt die Maschine mit 298 Menschen an Bord nie an.
Die Route führt Flug MH17 über die Ostukraine, wo ein bewaffneter Konflikt zwischen der ukrainischen Regierung und pro-russischen Separatisten tobt. In niedrigen Höhen herrscht Flugverbot für die zivile Luftfahrt. Doch MH17 fliegt zehn Kilometer über dem Boden. Um 13.20 Uhr niederländischer Zeit verschwindet die Maschine vom Radar. Eine Bodenrakete explodiert neben dem Flugzeug, das Cockpit und die Business-Klasse reißen ab und die einzelnen Teile stürzen in die Tiefe. Niemand an Bord überlebt.
Die Niederlande ist in Schockstarre. Die Bergung der 196 toten Niederländer*innen aus dem Kriegsgebiet und der Rücktransport dauern lange. Erst sechs Tage nach dem Unglück, am 23. Juli 2014, an dem offizielle Staatstrauer ausgerufen wird, landen Militärmaschinen mit Särgen in Eindhoven. In einer Trauerprozession werden die Opfer durch das Land gefahren. Die Straßen sind gesäumt von weinenden und geschockten Menschen.
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Amateur*innenaufnahmen von brennenden Wrackteilen und Augenzeugen*innenberichte von vom Himmel fallenden Körpern, die durch die Dächer ukrainischer Wohnhäuser schlagen, gehen in den nächsten Wochen durch die Medien. Fotos von Koffern mit niederländischen Produkten, Pässen und Kinderspielzeug sind überall zu sehen. Es sind Bilder, die Ria van der Steen nur schwer ertragen kann. Die 53-Jährige hat bei dem Absturz ihren Vater und ihre Stiefmutter verloren, die auf dem Weg in den Urlaub auf Borneo waren.
Vater und Stiefmutter verloren
Die Aufnahmen des Wracks und der Körper auf dem Feld in der Ostukraine hätten sie zusätzlich traumatisiert, sagt sie. „Ich konnte die Bilder ohne eine Flasche Wein gar nicht ertragen“, erinnert sie sich. Einmal war ich mir sicher, meine Stiefmutter gesehen zu haben. „Das hat mich monatelang verfolgt. Ich habe wie besessen immer wieder alle Aufnahmen durchgeschaut, auf der Suche nach ihr.“ Lange hätten sie Albträume verfolgt, erklärt sie. „Ich war auf dem Feld in der Ukraine und habe meinen Vater gesucht.“
Als sie davon berichtet, füllen sich ihre Augen mit Tränen. „Ich bin selbst überrascht, dass ich jetzt anfange, zu weinen. Normalerweise halte ich das aus.“ Denn als Sprecherin der Organisation „Absturz MH17“ ist sie Fragen zu dem Thema gewöhnt. Im November 2014 wurde diese von einigen Angehörigen gegründet, um Betroffenen Rechtsbeistand und psychologische Betreuung zu bieten. Ebenso ist die Organisation verantwortlich für den jährlichen Gedenktag.
Erst Monate später habe van der Steen erfahren, dass es auf den Fernsehbildern gar nicht ihre Stiefmutter gewesen sein konnte, denn ihre Eltern sind fast völlig verbrannt. „Ich habe bloß ein paar Knochen zurückbekommen, jeweils nur eine Handvoll.“ Dafür habe sie eine besondere Idee gehabt: „Nach der Einäscherung haben wir die Asche in eine Vase integriert.“
Nun steht sie auf der Fensterbank im ehemaligen Wohnhaus ihrer Eltern, in dem jetzt Ria van der Steen mit ihrer Familie lebt. Ihre Eltern seien einige Jahre zuvor in eine andere Stadt umgezogen und hätten ihr das Haus überlassen. „Wenn die Sonne scheint, dann leuchten die Regenbogenfarben des Buntglases bis zu meinem Schreibtisch. Das finde ich sehr schön.“
Klage gegen Russland
Realisiert, was geschehen sei, habe sie ein halbes Jahr nach dem Absturz. Das sei der Moment gewesen, in dem sie begonnen habe, für die Organisation „Absturz MH17“ zu arbeiten. „In den Niederlanden ist die Betreuung der Angehörigen sehr gut geregelt“, so van der Steen. „In den anderen Ländern der Opfer ist das nicht so. Die Betroffenen werden einfach ihrem Schicksal überlassen“, erklärt sie. Diese stammen aus Malaysia, Australien, Indonesien, Großbritannien, Belgien, Deutschland, den Philippinen, Kanada und Neuseeland.
Derzeit läuft beim in Den Haag bei einem Strafprozess die inhaltliche Untersuchung des Absturzes. Beweise stützen sich auf die Recherchearbeit von „Bellingcat“, einem Investigativ-Team von Journalist*innen, die anhand von Bildern in den sozialen Medien den Transport der Bodenrakete von Russland in die Ukraine verfolgten. Die russische Regierung streitet jede Verantwortung ab und sieht die Schuld bei der Ukraine. Vor Gericht stehen vier Soldaten: drei russische und ein ukrainischer. Anwesend ist keiner. Alle befinden sich in Russland, das keine Landsleute ausliefert.
Kläger*innen im Strafprozess sind zahlreiche Angehörige. Der Prozess findet im Land nach niederländischem Recht statt, da ein Großteil der Opfer Staatsbürger*innen sind. Bereits 2016 hatten mehrere Hundert Angehörige zudem Russland beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt. Im Juli 2020 reichte auch die niederländische Regierung an gleicher Stelle Klage gegen den russischen Staat ein.
Gleichzeitig sind da auch Angehörige wie Ria van Steen, die wütend erklärt: „Sie haben gewusst, dass es sich um eine Passagiermaschine gehandelt hat, nicht um ein Militärflugzeug. Sie hatten ja genug Technik dafür.“ Für sie mache es einen großen Unterschied, unter welchen Umständen MH17 abgestürzt ist. „Es war ja kein Unglück oder ein technisches Problem, sondern eine bewusste Handlung von jemandem, diese Leben zu beenden. Darum will ich, dass die Welt weiß, wer verantwortlich ist.“
Nicht auf der politischen Agenda
Angehörige haben die Möglichkeit, an den Sitzungen des Gerichts als Zuhörer*innen teilzunehmen. Dafür wurden die Verhandlungen in ein größeres Gerichtsgebäude in Schiphol, nahe dem Flughafen, verlegt. Zudem werden die Sitzungen auch jedes Mal live im Internet übertragen – für Angehörige, die sich nicht in den Niederlanden befinden. Allerdings werden alle diese Prozesse vermutlich noch Jahre dauern.
So wie Ria van der Steen denkt auch Lique Fredriksz. Die 54-Jährige hat bei dem Absturz ihren jüngsten Bruder Bryce, 23 Jahre alt, und ihre Schwägerin Daisy verloren. Die beide seien auf dem Weg in den Urlaub auf Bali gewesen. „Es war ein Anschlag“, meint sie. „Es war ein Mord an so vielen Menschen. Warum wird niemand zur Verantwortung gezogen? Warum dauert das so lange?“
Sie hat das Gefühl, dass in den Niederlanden kaum noch über MH17 gesprochen werde. „Wir sind nicht auf der politischen Agenda. Andere Dinge sind wichtiger.“ Auch im Privaten zeige sich das. Am Anfang habe jede*r nachgefragt, wie es ihr gehe und ob es etwas Neues gebe. Aber nun käme es vor, dass Menschen sagen würden: ‚Es ist sieben Jahre her. Das Leben geht weiter.‘ „Das stimmt auch,“ sagt Fredriksz, „aber das bedeutet nicht, dass das geschehene Unrecht dadurch Recht geworden ist. Wir brauchen doch jemanden, der verantwortlich ist und seine Strafe bekommt. Und bei MH17 ist es nicht nur ein Mal ein Unrecht, sondern 298 Mal.“
Funktionieren für die Familie
Nachdem sie die schreckliche Nachricht vom Absturz erfahren habe, sei sie es gewesen, die vieles organisiert habe. „Ich bin sofort in eine Art Überlebensmodus gewechselt. Als älteste Tochter war ich in den ersten Tagen die Kontaktperson, habe versucht, telefonisch Informationen zu bekommen und war damit täglich 24 Stunden beschäftigt“, erinnert sie sich. Anfangs habe absolute Ungewissheit geherrscht.
„Meine Familie kommt aus Niederländisch-Indien“, erklärt sie und verwendet den Namen der ehemaligen Kolonie, das heutige Indonesien. „In unserer Kultur ist es üblich, dass die ganze Familie zusammenkommt, um Wochen oder sogar monatelang beisammenzubleiben und um einander zu unterstützen. In den ersten Monaten waren täglich 80 bis 100 Menschen bei uns zu Hause“, sagt Fredriksz. Richtig begriffen habe sie die Situation erst, als die ersten Särge in Eindhoven ankamen.
Als sie dies erzählt, bricht ihr die Stimme. „Ich hatte bis dahin noch gar nicht geweint. Während der Schweigeminute, als die ersten Särge herausgehoben wurden, hört man in der Stille plötzlich Geschrei. Mir war gar nicht klar, dass ich das war. Das habe ich erst später verstanden. Aber da bin ich zusammengebrochen.“ Sie habe sich gefragt, ob Teile der Opfer vielleicht noch dort liegen würden, ob sie zumindest zusammen seien oder ob sie sich überhaupt in den Särgen befänden. Sie habe diese Horrorvorstellung gehabt, dass ihre Leichen in der Ukraine immer noch in der sengenden Sonne lägen.
Sie schlägt sich die Hände vor das Gesicht, Tränen laufen über ihre Wangen. Sie bittet kurz um eine Pause, um aus dem Flurschrank eine Packung Taschentücher zu holen. Als sie zurückkommt, wirkt es so, als wäre plötzlich alle Kraft aus ihr gewichen. Sie scheint um Jahre gealtert. Sie tupft sich die Augen, putzt sich die Nase, hält das zerknüllte Taschentuch weiter in der Faust.
Das Leben geht weiter
Es habe zwar die Möglichkeit gegeben, psychologische Unterstützung von Organisationen zu bekommen, Fredriksz habe dies aber nicht in Anspruch genommen. „Ich musste in meiner Familie alle Bälle in der Luft halten. Ich hatte dafür keinen Raum. Und Jahre danach, als ich dann soweit war, gab es das Angebot nicht mehr.“ Also habe sie sich privat Hilfe gesucht und sei unter anderem zwei Wochen in einer psychiatrischen Klinik gewesen.
Noch heute sei sie in Therapie. „Meine Karriere konnte ich nicht weiterverfolgen.“ Während sie spricht, legt sie ihre Hand immer wieder auf ihre Brust, streicht über die Stelle, wo ihr Herz ist. Lique Fredriksz hat das Buch ‚Trauern – wie denn?‘ geschrieben. „Dadurch konnte ich heilen. Zudem wollte ich das Leben von Bryce und Daisy ehren, nicht ihren Tod. Es ist wichtig, dass wir die Erinnerung an sie lebendig halten – all die schönen Erinnerungen, nicht nur das schreckliche Ende“, erklärt sie.
„Mein Ziel war es, anderen Menschen zu helfen, die auch einen Verlust erlitten haben. Ich wollte zeigen, dass das Leben weitergeht und dass, auch wenn die Trauer ein Teil von uns ist, es möglich ist, positiv zu bleiben und Schönheit im Leben zu sehen.“ Darauf habe sie viele Reaktionen erhalten, von Menschen, die das Gleiche durchgemacht haben. Denn der Absturz von MH17 habe einen gigantischen Schaden hinterlassen, sagt sie.
„Es sind mehr als die 298 Menschen: Es sind deren Angehörigen, die Folgegenerationen, die Augenzeugen aus der Ukraine, die Gerichtsmediziner hier in den Niederlanden, die Fahrer der Leichenwagen und die Experten, die die Angehörigen betreuen.“ Aber all diese Leben gehen weiter – auch die von Ria van der Steen und Lique Fredriksz – selbst wenn der Schmerz noch jeden Tag da ist.
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