Kairo ist berüchtigt für die sexuelle Belästigung, der Frauen im Alltag ausgesetzt sind. Nun hat eine junge Medizinstudentin eine App entwickelt, die im Notfall Fremde zu Helfern macht.
Von Mareike Enghusen, Kairo
Es war früher Morgen, gegen sieben Uhr, als das Klingeln ihres Handys die ägyptische Studentin Shadw Helal aus dem Schlaf riss. Ihre Freundin Rania (Name geändert) war dran, sie klang gehetzt. „Ich bin auf dem Weg zur Uni, vier Männer verfolgen mich“, zischte sie in den Hörer und fragte: „Wo bist du? Kannst du kommen?“ Aber Shadw Helal konnte nicht kommen: Sie lag noch im Bett, im Haus ihrer Eltern am anderen Ende Kairos. Sie sprach der Freundin Mut zu, versuchte, sie zu beruhigen. Rania begann zu rennen, den ganzen Weg bis zur Universität, bis die Männer zurückblieben.
„Ich wollte ihr helfen, konnte aber nicht – das war ein furchtbares Gefühl“, erinnert sich Shadw Helal ein Jahr später. „Da dachte ich: Warum sollten Frauen in so einer Situation auf Freunde warten müssen, wenn Fremde in der Nähe viel schneller helfen könnten? So bin ich auf die Idee für die App gekommen.“
Die 22-Jährige sitzt in einem Café auf der Nil-Insel Zamalek, trägt einen grünen Pullover und ein farblich abgestimmtes Kopftuch. Vor ihr auf dem Tisch türmen sich Notizblöcke und Lehrbücher: Shadw Helal studiert Medizin im zehnten Semester, in wenigen Wochen stehen Prüfungen an. Der hohe Lernaufwand hat sie jedoch nicht abgehalten, nebenbei eine App auf den Markt zu bringen, die Frauen vor Belästigung schützen soll.
Das Prinzip: Fühlt sich eine Frau in der Öffentlichkeit bedrängt, kann sie die App namens „Rescue“ aktivieren. Sofort wird ein Notruf zusammen mit dem Standort der Frau an registrierte Nutzer im Umkreis gesandt – in der Hoffnung, dass jemand rechtzeitig eingreifen kann. Dass eine App wie „Rescue“ in Kairo entwickelt wurde, ist kein Zufall: Die Stadt ist berüchtigt für das Maß der verbalen und physischen Belästigung, der Frauen im Alltag ausgesetzt sind.
Die „gefährlichste Mega-City für Frauen“
In einer UN-Umfrage aus dem Jahr 2013 gaben 99,3 Prozent der befragten ägyptischen Frauen an, bereits verbal oder physisch belästigt worden zu sein. Darunter fallen anzügliche Bemerkungen auf der Straße ebenso wie körperliche Übergriffe bis hin zur Vergewaltigung. Im Zuge der Aufstände 2011 kam es zu etlichen Fällen sexueller Gewalt bis hin zu Massenvergewaltigungen. Auch ausländische Reporterinnen wurden attackiert – teils vor der Kamera wie die CBS-Reporterin Lara Logan. Die schockierenden Bilder und Augenzeugenberichten gingen um die Welt.
Doch seitdem haben sich mehrere Frauenrechts- und Aktivistengruppen formiert, um das Problem der sexuellen Belästigung zu bekämpfen und öffentlich anzuprangern, darunter Initiativen wie „Shoft Taharush“ („Ich habe Belästigung gesehen“). Auf der Online-Plattform HARASSmap werden Fälle von sexueller Belästigung geographisch dokumentiert. Die „Rescue“-App von Shadw Helal passt gut in eine Zeit, in der sich immer mehr Widerstand gegen die Demütigungen vonseiten der Frauen regt.
Eine andere Gruppe junger Ägypter hat eine App namens „Street Pal“ auf den Markt gebracht, die Frauen in bedrohlichen Situationen Handlungsanweisungen gibt und Polizeistationen in der Nähe anzeigt. Auch in anderen Ländern wie Bangladesh und Indien, aber auch in Deutschland können Frauen inzwischen Notrufe via App aussenden.
Wie so viele Apps begann auch „Rescue“ mit einem spontanen Einfall. Shadw Helal fragte einen befreundeten Informatikstudenten, ob die Idee technisch umsetzbar sei. Sicher, antwortete der Freund und erklärte sich bereit, die App zu entwickeln. Ehrenamtlich. Nach einigen Monaten schloss sich eine Designstudentin an. Als die App im Mai noch in der Betaphase war, meldete Helal das Produkt bei einem regionalen Start-up-Wettbewerb an. Zu ihrer eigenen Überraschung wurde „Rescue“ aus 2.000 Apps unter die Top 200 gewählt und Helal flog zum Finale nach Casablanca. Zwar ging sie dort leer aus, doch der Erfolg gab ihr Zuversicht. Bei einem zweiten Wettbewerb in Kairo landete „Rescue“ schon unter den Top 100.
Mitte Oktober brachten die drei Gründer eine erste Version heraus – kostenlos zum Download im regionalen Google Store. Shadw Helal verkündete die Veröffentlichung über Facebook und schrieb ein paar ägyptische Medien an. Ein beliebtes Online-Portal griff das Thema auf – und ein Sturm brach los: Tagelang habe ihr Telefon nicht stillgestanden, berichtet die Medizinstudentin. Etliche Zeitungen und Webseiten baten um Interviews. „Ich dachte nur: Oje, so ein Trubel,“ sagt sie und lacht, „hoffentlich melden sich jetzt auch Nutzer an!“
Die Sorge war unbegründet: Tausend Menschen luden die App in der ersten Woche herunter. Inzwischen haben sich fast 3.000 Nutzer registriert – davon ein Drittel Männer, das sich als freiwillige Helfer angemeldet hat. „Ich bekomme Nachrichten von Fremden, die mir schreiben: Ich möchte helfen, wie kann ich mich anmelden? Es ist verrückt!“ Shadw Helal lacht auf, als könne sie es selbst kaum glauben. „Da draußen sind so viele gute Menschen!“ Die drei Gründer halten die Zahl der Notrufe und die Reaktionen darauf in einer internen Statistik fest.
In den ersten zwei Wochen, berichtet sie, wurden 27 ausgesandte Notrufe positiv beantwortet, sprich: Andere Nutzer konnten einer bedrängten Frau zu Hilfe kommen. In den zwei Wochen darauf stieg die Zahl schon auf über hundert. Was im Einzelfall genau passiert ist, registriert die App nicht; doch über ein Bewertungssystem, vergleichbar mit dem von Uber oder Amazon, können Nutzer einander bewerten. So soll beispielsweise falscher Alarm vermieden werden. In Zukunft sollen sich die Nutzer sich mit Ausweis und Handynummer verifizieren müssen. Ein Update ist in Arbeit, auch eine iPhone-Version ist auf dem Weg.
Sogar ein Investor hat sich inzwischen gemeldet. „Wir haben uns noch nicht geeinigt,“ sagt Helal, „aber es ist großartig, ein Angebot zu bekommen!“ Bisher wird die App von Eigenkapital getragen: Die Familien der drei Studenten haben eine Summe in unbekannter Höhe in das Projekt gesteckt. Erweist sich „Rescue“ langfristig als erfolgreich, wollen die drei ihre App auch in anderen Städten und anderen Ländern der Region anbieten. Außerdem planen sie, ein tragbares Gerät in Form eines Armbands zu entwickeln, mit dem Frauen einen Hilferuf per Knopfdruck absetzen können. Dieses Gerät soll im Gegensatz zur App etwas kosten und so eine erste Einnahmequelle eröffnen. Neben dem primären Zweck – dem Schutz vor Übergriffen – dient die App auch als Informationsplattform. „Wir veröffentlichen die Telefonnummern von Polizei und Krankenhäusern und geben Tipps, wie Frauen sich im Notfall selbst verteidigen können“, sagt Shadw Helal.
„Wir wollen die Frauen ermutigen, Übergriffe anzuzeigen“
Zwar hat Ägyptens Regierung 2014 ein Gesetz verabschiedet, dass verbale und physische Belästigung erstmals unter Strafe stellt – aber laut Helal schämten sich viele Frauen, Anzeige zu erstatten: „In unserer Kultur wird oft den Frauen die Schuld gegeben, wenn sie belästigt werden.“ Tatsächlich stimmen in einer aktuellen Umfrage von UN Women und der Frauenrechtsorganisation „Promundo“ 74 Prozent der männlichen Befragten der folgenden Aussage zu: „Frauen, die sich provokativ kleiden, verdienen es, belästigt zu werden.“ Einseitige Schuldzuweisungen in Richtung der Machos greifen jedoch zu kurz: 84 Prozent der weiblichen Befragten sind der gleichen Meinung.
Für Haltungen wie diese liefert eine App allein „keine magische Lösung“ – „stattdessen brauchen wir Bildung und Aufklärung, von einem möglichst jungen Alter an, um die Einstellungen der Menschen zu ändern“, so die Studentin. Bis es so weit ist, hofft sie, wird ihre App den Frauen Kairos ein wenig Sicherheit geben.
Für manche kommt die Idee jedoch zu spät. Auch Helals Freundin Rania, die unwillentlich den Anstoß zu der App-Idee gab, hat sich „Rescue“ auf ihr Handy geladen. Allerdings, erzählt Helal, wird sie die App wohl nie benutzen. Denn seit sie vor einem Jahr von vier Männern verfolgt wurde, nimmt Rania selbst für kurze Strecken ein Taxi: Zu groß ist ihre Angst, erneut zum Opfer zu werden. Shadw Helal kann sie verstehen. Sie selbst vermeide es, in Kairo zu Fuß zu gehen, gibt sie zu, trotz „Rescue“-App. „Es ist so schade, ich liebe es eigentlich, zu laufen“, sagt sie. „Aber: Ich fühle mich in meiner eigenen Stadt nicht sicher.“